Der Mord bei Ostiem am 1. Februar 1913
24. Juni 1913 -"Zeitung für Stadt und Land"
Der Mord bei Ostiem
Oldenburg 24. Juni
Leider gehören Mordprozesse vor dem Oldenburger Schwurgericht nicht zu den Seltenheiten. Im letzten Jahrzehnt kam dort so mancher betrübende Fall, in dem ein Mensch gewaltsam getötet worden war, zur Verhandlung. Heute handelt es sich um den Fall Hilberts Holtermann. Der Andrang zum Zuhörerraum ist sehr stark, erfreulicherweise hat das Gericht Karten ausgegeben, wodurch einer Überfüllung des Zuhörerraums vorgebeugt worden.
Aus der Anklagebank nehmen Platz:
1 . Der Arbeiter Johann Hilberts , geb. am 27 . März 1882 zu Wiesen, wohnhaft zu Klosterneuland.
2 . Die Ehefrau des Arbeiters Johann Holtermann, Wilhelmine geb. Kaiser, geb. am 11. Juni 1880 zu Funnix, Kreis Wittmund , wohnhaft zu Klosterneuland .
Das Gericht setzt sich zusammen aus den Herren Landgerichtsdirektor Bothe, Landgerichtsrat Dr. Högel Assor Mehrens; Gerichtschreiber ist Referendar Rolfs.
Die Verteidigung liegt in den Händen der Rechtanwälte Ehlermann und Greving.
Die Anklags vertritt Erster Staatsanwalt Riesebieter.
Hilberts ist angeklagt, in der Nacht vom 1. zum 2. Februar 1913 zu Ostiem einen Menschen, nämlich den Arbeiter Johann Holtermann aus Klosterneuland, getötet, und die Tötung mit Überlegung ausgeführt zu haben.
2 . Die Ehefrau Holtermann ist angeklagt, einen anderen nämlich den Arbeiter Johann Hilberts aus Klosterneuland, zu der von demselben begangenen Handlung, nämlich den an ihrem - Ehemanns begangenen Mord, durch Geschenke oder Versprechen, durch Drohung, durch Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt, durch absichtliche Hinterführung oder Beförderung eines Irrtums oder durch andere Mittel vorsätzlich bestimmt zu haben.
Der Angeklagte Hilbers
ist ein großer schlanker Mensch, der keinen unsympathischen Eindruck macht. Er hat von 1904 bis 1906 Bei der ersten Kompagnie des Infanterie-Regiments Nr. 91 gedient, Vorher hat er bei verschiedenen Landwirten und bei Kanalschiffern gearbeitet. Später hat er in verschiedenen Betrieben, Viehhändlern, bei Gelegenheitsarbeiten in Feldhausen, bei Unternehmern in Wilhelmshaven und Rüstringen im Juni 1909 bei den Kalksandsteinwerken bei Heidmühle, dann wieder in Wilhelmshaven, bei dem Fuhrunternehmer Looschen in Schaar, vom 1 . Mai bis 1. November 1911 bei Landwirt Daun in Horster Grashaus, dann wieder beim Fuhrunternehmer Neumann in Heidmühle, und in der letzten Hälfte des Jahres 1912 auf den Kalksandsteinwerken bei Heidmühle gearbeitet.
Die Angeklagte Holtermann
hat sich am 8. Mai 1898 mit ihrem Ehemann verheiratet. Ihre Mutter ist gestorben, als sie, die Angeschuldigte, noch jung war und mit ihren Eltern in Funix wohnte. Der Vater hat sich bald darauf wieder verheiratet und ist nach Rüstringen gezogen. Ihre Stiefmutter scheint sich um ihre Erziehung wenig gekümmert zu haben.
Die Eheleute Holtermann
haben nach ihrer Verheiratung bis zum 1. Juni 1911 in Rüstringen gewohnt und sind dann nach Klosterneuland gezogen, wo sie sich ein eigenes Haus erwarben. Etwa 1907 erbte Holtermann von seinem Vater 3500 M. Sie lebten in guten Vermögensverhältnissen, da der Ehemann Holtermann sehr sparsam war.
Die Vorgeschichte.
Im September 1912 ist der Angeschuldigte Hilberts zu den Eheleuten Holtermann in Kost und Logis gekommen. Er arbeitete damals auf den Kalksandsteinwerken bei Heidmühle, von Weihnachten bis Neujahr bei dem Fuhrunterehmer Neumann in Heidmühle. Vom 2. bis 25. Januar hatte er infolge eines kranken Fingers nicht gearbeitet. Der Ehemann Holtermann war tagsüber abwesend, da er auf der Werft in Wilhelmshaven arbeitete. Die Anklage nimmt an, daß es in dieser Zeit zu intimem Verkehr zwischen Hilberts und Frau Holtermann gekommen ist. Auch der Außenwelt gegenüber machten sie gar kein Hehl von ihren Bezieungen. Allgemein ist über ihr Verhalten gesprochen worden. Zwei Nachbarn haben Holtermann auch nicht lange vor seinem Tode auf das Verhalten seiner Frau aufmerksam gemacht, infolgedessen er die Angeschuldigte zur Rede gestellt hat. Doch auch in seiner Gegenwart genierten sie sich nicht, miteinander zärtlich zu tun, wie sich dies namentlich auf einem Balle an Kaisers Geburtstage beim Wirt Klische zeigte. Hilberts traktierte hier Frau Holtermann mit allerlei Sachen, tanzte fast ausschließlich mit ihr und brachte dann, nachdem der Ehemann Holtermann betrunken geworden war und sich entfernt hatte, allein Frau Holtermann nach Hause.
Die Mordnacht.
Am 1. Februar d. J. fand in der Faßschen Wirtschaft in Ostiem eine Bürgervereinsversammlung statt. Holternn war Mitglied des Vereins, Hilberts dagegen nicht. Sie find kurz nach 8 Uhr von Hause weggegangen, und zwar über Heidmühle, die Chaussee entlang, sind kurz vor 9 Uhr beim Wirt Hinrichs in Ostiem eingekehrt, wo sie aber nur kurze Zeit verweilten, und dann zur Faßschen Wirtschaft gegangen. Hilberts blieb in der Gaststube, Holtermann ging in den Saal hinein, wo die Versammlung abgehalten werden sollte, ist aber dann nach Verlauf von 10 Minuten zurückgekommen und hat nun bis gegen 1/2 12 Uhr zusammen mit Hilberts in dem Faßschen Lokale gekneipt. Etwa um 1/2 12 Uhr sind sie fortgegangen. Holterrnann war angetrunken, Hilberts hat niemand eine Trunkenheit angemerkt.
Am andern Nachmittags um 5 Uhr wurde in der Nähe des Bahnhofs Ostiem
in einem Graben Holtermaun als Leiche gefunden.
der äußere Befund zeigte und die erfolgte Leichenöffnung hat dies bestätigt, daß er erstochen worden ist. Vier Zentimeter oberhalb der rechten Augenbraue befand sich eins gralinige, zwei Zentimeter lange Hautabschürfung. Am Halse fanden sich drei gradlinige Durchtrennungen der Haut. Die erste saß am unteren Rande des Unterkiefers, und war 2 1/2
Milimeter lang. Eine zweite Wunde befand sich in der Höhe des Kehlkopfes; sie war 3 Zentimeter lang und klaffte 6 Milimeter auseinander. Eine dritte Wunde befand sich ebenfalls in der Höhe des Kehlkopfes, neben der Mittellinie beginnend und von da an 12 Millimeier horizontal nach links verlaufend. Als Todesursache kommen nach dem ärztlichen Gutachten nur die beiden letztgenannten Verletzungen in Frage. Ter Tod ist durch Verblutung eingetreten, und zwar im Anschluß an die Verletzung großer Halsgefäße. Sterbend oder nach erfolgtem Tods ist Holtermann in den Graben gelangt.
Der Verdacht.
Der Kopf hat in der Richtung nach Jever zu gelegen, der Kopf befand sich unter Wasser, Brust und Leib haben aus dem Wasser herausgesehen. Die Mütze lag zu Füßen der Leiche, einige Schritte davon entfernt. Der Fundort befand sich 150 Meter westlich von dem Bahnhof Ostiem in der Richtung nach Jever. 9 Meter vom Graben entfernt ist auf dem nebengelegenen Acker ein Dolchmesser gefunden worden; die dazu gehörige Lederscheide lag zwei Schritte von der Leiche entfernt. In der Nacht, wo die Tat begangen ist, war starker Schneefall; dadurch erklärt sich das späte Auffinden der Leiche. Der Verdacht der Tat lenkte sich bei dieser Sachlage sofort auf Hilberts; er wurde zu Hause angetroffen und gleich festgenommen. Zunächst hat er die Tat geleugnet und behauptet, Holtermann sei nach dem Weggänge aus der Faßschen Wirtschaft die Bahnstrecke nach Heidmühle entlang gegangen, während er die Chaussee nach Schortens und von dort einen Seitenweg nach Klosterneuland eingeschlagen habe.
Rechtsanwalt Greving vertritt Frau Holtermann, Rechtsanwalt Ehlermann Hilberts.
Die beiden Angeklagten betreten in zuversichtlicher Haltung den Schwurgerichtssaal, als ob sie sich gar nicht bewußt sind, um welch schwere Anklage es sich handelt. Das ändert sich aber bald. Als Frau Holtermann die 59 Zeugen sieht, wird die Erinnerung an die furchtbaren Dinge doch in ihr lebendig; sie hält das Taschentuch vor das Gesicht und weint; sie ist eine mittelgroße Frau.
Nach Bildung der Geschworenenbank, erfolgt der Zeugenaufruf. Es sind 59 Zeugen geladen; außerdem sind zwei Sachverständige erschienen: Medizinalrat Dr. Schlaeger und Dr. Ruschmann.
Zwei Tage Verhandlung.
Der Vorsitzende teilt mit, daß man sich heute mit dem Vorleben der Angeklagten, ihrem Charakter, ihren Beziehungen zueinander, ihren intimen Beziehungen und schließlich mit der Versammlung , die vor der Mordnacht stattfand, beschäftigen wird . — Morgen kommt der Leichenbefund, das Verhalten der Angeklagten nach dem Morde usw. zur Sprache. Die Verhandlung wird am Mittwochmorgen um 9 Uhr fortgesetzt. Ob heute eine Nachmittagssitzung stattfindet, wird erst der Verlauf der Sitzung ergeben.
Die Vernehmung der Angeklagten
Der Angeklagte Hilberts hat einige Vorstrafen hinter sich, die Angeklagte Holtermann ist unbestraft.
Hilberts.
Vorsitzender: Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig? Haben Sie das getan, was Ihnen die Anklage vorhält? — Ja . — Haben Sie Hilberts vorsätzlich totgemacht ? — Nein, mit Überlegnng nicht. — Haben Sie das Messer nicht zu dem Zweck mitgenomnren? — Nein. — Wie find Sie denn dazu gekommen, Holtermann zu töten ? — Ich war von der
Frau dazu angestiftet worden. — Von welcher Frau? — Von Frau Holtermann. — Was hatte sie denn zu Ihnen gesagt? — Ich sollte sehen, daß ich ihn nicht wieder nach Hause brächte; sie wollte ihn nicht mehr vor Augen sehen. — Hat die Frau auch von Heirat gesprochen? — Ja , sie hat gesagt, sie wolle mich heiraten, wenn der Mann tot wäre. — Dann wollten Sie doch den Mann töten. — Nein. — Wenn Holtermann aber weg war, war es Ihnen auch recht . — Ja.
Frau Holtermann
Vorsitzender: Angeklagte, was sagen Sie dazu ? Ich bin unschuldig! — Haben Sie den Ausspruch nicht getan ? — Nein . — Haben Sie nicht gesagt, der Angeklagte soll Ihren
Mann nicht wieder mit nach Hause bringen ? — Nein. — Haben Sie auch nicht gesagt, Sie wollten Hilberts heiraten, wenn Ihr Mann tot war? Haben Sie überhaupt nicht mit
ihm über solche Dinge gesprochen? — Nein . — Hat der Angeklagte Ihren Mann dann aus freihen Stücken getötet? — Ja.
Die Zeugenvernehmung.
Zunächst werden die früheren Arbeitgeber des Angeklagten und solche Personen, die beim Militär oder sonst mit ihm zu tun hatten, vernommen. Das Urteil über Hilberts lautet sehr verschieden. Ein Zeuge sagt : Er war fleißig und ordentlich, ein anderer: es war nichts an ihm auszusetzen; ein Feldwebel sagte: „Er war ein feiger Charakter." Ein Arbeitgeber sagt aus: Ich traute ihm nicht, und habe sich gefreut, daß ich ihn wieder los wurde. Meine Knechte und Mägde sagten mir, daß er das Vieh schlecht behandelte. Ein Zeuge hat einmal Streit mit ihm gehabt. Dabei hat sich der Angeklagte sehr roh gezeigt. Ein Zeuge hat in einem Streit mehrere Messerstiche in Seite und Kopf von ihm erhalten. Hilberts soll sehr zu Streitigkeiten geneigt haben. Er soll grob, aufbrausend , jähzornig sein.
(Bei Schluß der Redaktion dauert dis Sitzung fort.)(1411)
26. Juni 1913 - "Zeitung für Stadt und Land"
Der Mord bei Ostiem
( Nachdruck verboten )
( Fortsetzung des- Berichts aus gestriger Nummer.)
Eine ganze Anzahl Zeugen sagen darüber aus, wie sich die Angeklagten nach dem Mord verhalten haben. Das Verhalten der Angeklagten Holtermann nach der Tat ist ein sehr belastendes gewesen. Während sie selbst zugibt, daß ihr Mann sonst nicht so lange auszubleiben Pflege, hat sie nichts dafür getan, um zu erfahren, wo der Mann geblieben sei. Sie hat weder Verwandte noch Nachbarn benachrichtigt und auch keine Bedenken gegen das Ausbleiben ihres Mannes geäußert. Beide Angeschuldigte haben miteinander gelacht und gescherzt; Hilberts hat sogar Musik gemacht, und als am 2. Februar früh die Zeugin Schmidt Weißbrot brachte, ist sie genötigt worden, hereinzukommen und Kaffee mitzutrinken. Alle sind guter Laune gewesen und haben Scherz gemacht. Andererseits haben Zeugen beobachtet, daß beide Angeschuldigte oft vor die Haustür gekommen sind, um auszuschauen, als ob sie auf irgend etwas lauerten. Als dann durch den Gendarm die Festnahme von Hilberts erfolgt war und Frau Holtermann nach Ostiem ging, um die Leiche ihres Mannes zu sehen, hat auch sie hier ein Wesen zur Schau getragen, das nicht von einer echten Trauer zeugte.
Rechtsanwalt Greving legt Wert auf die Feststellung, daß die Angeklagte, als ihr toter Mann ins Haus gebracht worden ist, in demselben Raume neben der Leiche geschlafen hat. Ein Zeuge bekundet weiter auf Befragen des Rechtsanwalts, daß die Angeklagte eine anhängliche, sorgende Mutter gewesen ist. Sie hing sehr an ihrem Mann, und die Eheleute spielten, wenn der Mann abends nach Hause kam, wie Kinder zusammen.
Eine Zeugin, Frau Kallenberg, hat sich nach dem Mord mit Frau Holtermann unterhalten. Im Verlaufe des Gesprächs hat Frau Holtermann ausgerufen:
„Nu hew ick twee Männer up mien Geweten".
Sie hat auch davon gesprochen, sie wolle sich erhängen.
Der Untersuchungsrichter sagt aus, der Angeklagte sei ihm als ein schwerfälliger Mensch vorgekommen. Manche Frage habe er gar nicht verstanden, und es habe oft lange gegedauert, bis er geantwortet habe. Später habe er dann ganz bestimmte Angaben gemacht, und auf die wiederholte Vorstellung des Untersuchungsrichters: „Ist das nun wahr, was Sie sagen", habe der Angeklagte bestimmt erwidert: „Ja." Unter anderem habe Hilberts bestimmt erklärt, daß er schon beim Verlassen des Hauses die Absicht gehabt habe, Holtermann zu ermorden.
Um 12 Uhr wurde die Sitzung auf 4 Uhr vertagt.
Nachmittagssitzung.
Um 4 Uhr wird die Sitzung wieder eröffnet . Zunächst werden noch einige Fragen an die Angeklagte Frau Holtermann gerichtet. Der Vorsitzende erinnert sie daran, daß sie gesagt habe, sie habe jetzt zwei Männer auf dem Gewissen. — Sie kann darauf nichts erwidern.
Der Vorsitzende verliest darauf die
Schuldfragen
die wie folgt lauten:
1. Ist der Angeklagte Hilberts schuldig, in der Nacht zum 2. Februar 1913 in Ostiem vorsätzlich den Arbeiter Johann Hollermann getötet und die Tötung mit Überlegung ausgeübt zu haben?
2. Ist die Angeklagte Ehefrau Hölter mann schuldig, 1913 in Heidmühle den Arbeiter Johann Hilberts, welcher den Johann Holtermann vorsätzlich getötet und diese Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, zu dieser von ihm begangenen strafbaren Handlung durch Geschenke, der Versprechen, durch Drohung, durch Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt, durch absichtliche Herbeiführung eines Irrtums oder durch andere Mittel vorsätzlich bestimmt zu haben?
3. Nur zu beantworten, falls Frage 2 verneint wird: Ist die Angeklagte Ehefrau Holtermann schuldig, 1913 in Heidmühle dem Angeklagten Hilberts, welcher den Johann Holtermann vorsätzlich getötet und diese Tötung
mit Überlegung ausgeführt hat, zur Begehung dieses von ihm begangenen Verbrechens durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben?
4. Nur zu beantworten für den Fall der Verneinung der ..Frage 1: Ist der Angeklagte Hilberts schuldig, in der Nacht zum 2. Februar 1913 in Ostiem vorsätzlich den Arbeiter Johann Holtermann getötet zu haben, ohne
daß diese Tötung mit Überlegung ausgeführt ist?
5 . Nur zu beantworten, falls Frage 4 bejaht wird: Sind mildernde Umstände vorhanden?
6. Nur zu beantworten für den Fall der Verneinung der Fragen 2 und 3: Ist die Angeklagte Ehefrau Holtermann schuldig, 1913 in Heidmühle den Arbeiter Johann Hilberts , welcher den Johann Holtermann vorsätzlich getötet hat , ohne daß diese Tötung mit Überlegung ausgeführt ist, zu dieser von ihm begangenen strafbaren Handlung durch Geschenke oder Versprechen, durch Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt , durch absichtliche Herbeiführung oder Beförderung eines Irrtums oder durch andere Mittel vorsätzlich bestimmt zu haben?
7. Nur zu beantworten, falls Frage 6 verneint wird: Ist die Angeklagte Ehefrau Holtermann schuldig, 1913 in Heidmühle den Arbeiter Johann Hilberts , welcher den Johann Holtermann vorsätzlich getötet hat, ohne daß diese Tötung mit Ueberlegung ausgesührt ist, zur Begehung dieses von ihm begangenen Verbrechens durch Rat und Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben?
Erster Staatsanwalt Riesebieter
führt u. a . etwa folgendes aus: Das nördliche Jeverland ist im Frühjahre dieses Jahres von einer greulichen Schandtat betroffen worden. Der noch nicht 16jährige Arbeiter Fähnders hatte einen früheren Schulkameraden wegen 15 M meuchlings erstochen. Er erhielt die Höchststrafe, die ihn treffen konnte. Eine Woche früher wurde ein arbeitsamer Mann im Jeverlande von feinem Logismann Hilberts ebenfalls meuchlings hingestreckt. Auch in diesem Fall war es gemeine Habsucht, die den Täter zu dem Verbrechen bewog. Nicht Liebe zu der Mitangeklagten war die Triebfeder. Hätte der Angeklagte die Frau wirklich geliebt, dann wäre sein Verhalten hier in diesem Saale ein anderes gewesen. Er ließ der Frau, wenn von dem Verbrechen die Rede war, keine Schonung zuteil werden . Mit zyhnischem Lächeln sprach er von ihr. Von Liebe kann keine Rede sein, sondern lediglich niedrige Habsucht bewog ihn zu dem furchtbaren Verbrechen. Seine eigenen Worte waren: „Ich tat es, damit ich von der Landstraße wegkam." Ich habe mich gewundert, daß einer der Herren Verteidiger auch die Frage nach mildernden Umständen stellte. Wenn man einem solchen Manne, der sich wochenlang mit dem Mordgedanken beschäftigt hat, mildernde Umstände bewilligen wollte, so wüßte ich nicht, wohin man dann geraten wollte . — Das Aussehen des Angeklagten verändert sich jetzt merklich, Gesicht und Nacken werden rot. Er sieht den Staatsanwalt aber fortgesetzt an. Und hört aufmerksam zu. Die Frau sieht vor sich, nieder, man merkt ihr aber im allgemeinen keine Veränderung an. — Redner geht jetzt die einzelnen Phasen des Prozesses noch einmal durch. Der Leumund der Frau Holtermann sei im allgemeinen kein schlechter gewesen, während über Hilberts'fast nur Schlechtes ausgesagt worden sei. Er sei als roher und gewalttätiger Charakter geschildert worden. Namentlich seien seine schlechten Eigenschaften zutage getreten, wenn er trunken war. Von der Tat selbst sagt Redner u.a.: Der Angeklagte Hilberts hat ausgesagt, daß die Frau ihn fortgesetzt dazu aufgefordert habe, den Ehemann Holtermann totzumachen. Der Gedanke sei von der Frau ausgegangen, und sie habe ihm die Ehe versprochen usw. In der Bürgervereins-Versammlung gab er fortgesetzt Getränke für Holtermann aus; er selbst aber hat wenig getrunken, vielmehr hat er seine Getränke fortgegossen, in einem Falle hat man sogar gesehen, daß er Schnaps in das Bierglas des Holtermann goß. Unterwegs will der Angeklagte Streit mit Holtermann bekommen haben, und ganz zufällig will er gesehen haben, daß er einen Dolch in der Tasche hafte.
Wie ist die Mordtat zu charakterisieren, und ist seine Schilderung richtig? Mord begeht derjenige, der einen andern tötet, und zwar mit Überlegung. Was ist nun Überlegung? Vorsatz hat mit Überlegung nichts zu tun. Mit Vorsatz handelt der, der absichtlich einen Menschen tötet. Mit Überlegung handelt der, der noch ein übriges tut. Es muß die Ausführung eines Planes vorliegen. Er muß sich vorerst überlegt haben: darfst du das tun, und weshalb tust du das? Diese Ueberlegung muß auch noch vorhanden sein, wenn er die Tat ausführt. Mord liegt vor, wenn wir feststellen, daß der Täter nach längerer Ueberlegung den Plan gefaßt hat, den Mord aus zuführen. Auf das Wie kommt es dabei nicht an. Die Sache ist sicher so
gewesen, wie der Angeklagte vor dem Untersuchungsrichter ausgesagt hat. Er hat gesagt: bevor er aus dem Hanse ging, habe er den festen Plan gehabt: du willst heute die Tat ausführen; mit dieser Absicht ging er mit Holtermann in die Bürgerversarnmlung, und absichtlich hat er ihn betrunken gemacht, da er befürchten mußte, daß der doch immerhin kräftigere Holtermann sich wehren und dadurch den Plan vereiteln würde. Wenn die Ausführungen des Angeklagten vor dem Untersuchungsrichter richtig sind, liegen die Dinge so, daß der Angeklagte wochenlang den Plan hin und her überlegt hat. Das Hin- und Herwägen charakterisiert die Tat als Mord mit Überlegung. Den Dolch hat der Angeklagte von Holtermann geschenkt erhalten, und es war ein tragisches Schicksal, daß dieser schließlichdurch dies Geschenk ums Leben kam. Den Dolch will der Angeklagte ganz zufällig in der Tasche gehabt haben . Das klingt ja ganz unglaubwürdig. Wenn er mit der festen Absicht vom Hause fortging, Holtermann zu töten, wird er den Dolch mitgenommen haben, um die Tat damit ausznführen . Wochenlang vorher hat er davon gesprochen, daß er sich mit Frau Holtermann verheiraten wolle. Er hatte den Gedanken, wie er selbst sagt: Geiht et got, denn geiht et got , wenn nich, denn nich. Redner bittet die Geschworenen schließlich, die Schuldfrage nach Mord mit Ueberlegung zu bejahen; er weist besonders darauf hin, daß Hilberts nicht die Spur von Reue gezeigt hat . ( Die Angeklagte Holtermann weint; sie hält sich mit Mühe aufrecht, so daß man den Eindruck hat , sie könne jeden Augenblick ohnmächtig zusammenbrechen.)
Der Staatsanwalt beschäftigt sich dann mit der Angeklagten, die der Anstiftung zum Morde angeklagt ist. Redner glaubt, daß die Aussagen des Angeklagten Hilberts, die Frau habe ihn wochenlang zu dem Morde gedrängt, richtig ist. Er erinnert an die Vorgänge bei der Kartenlegerin, an die Frage, die sie an das Kind richtete: Möchtest Du Onkel Hilberts wohl als Vater haben? Weiter weist Redner auf das auffällige Benehmen nach der Tat hin, daß sie garnichts getan hat, nach ihrem Manne zu suchen. Dabei blieb er sonst nachts nie aus. Nach eingehender Darlegung des Sachverhalts bat der Staatsanwalt, die Schuldfrage zu bejahen. Die Rede hatte 1 1/4 Stunden gedauert.
Rechtsanwalt Ehlermann
erwidert u . a. folgendes : Der Herr Staatsanwalt hat seine Rede mit Worten des Abscheus über die furchtbare Tat begonnen. Ich glaube, es ist niemand im Saal, der anders darüber denkt. Die Scheußlichkeit der Tat ist so selbstverständlich, daß man darüber nicht anderer Ansicht sein kann. Aber darum handelt es sich nicht. Die Tat ist geschehen, und Sie, meine Herren Geschworenen, haben nun die Pflicht, die Tat strafrechtlich zu beurteilen. Ich als der Verteidiger habe die Aufgabe, dem Angeklagten in der schwersten Stunde seines Lebens zur Seite zu stehen und all das anzuführen, was die Tat milder erscheinen läßt. Es handelt sich hier um den Kopf eines Menschen, vielleicht zweier Menschen. Bejahen Sie die erste Frage, dann gibt es nur eine Strafe, und das ist die Todesstrafe . Wenn die Frage 4 bejaht wird, dann kann der Angeklagte mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren bestraft werden. Sie sehen also, welchen Unterschied das Strafgesetzbuch zwischen Mord und Totschlag macht. Der Laie meint, ein Mörder sei jeder Mensch, der einen andern vorsätzlich tötet. Das ist aber
nicht der Fall. Auch der Totschläger hat die Absicht, einen anderen zu töten. Aber was die Tat als Mord charakterisiert, das ist die Überlegung. Die Überlegung muß auch beim Begehen der Tat vorhanden sein. Ich glaube, es ist niemand hier, der aus der Verhandlung die Überzeugung gewonnen hat, daß die Tat mit Überlegung ausgeführt worden ist. Aus den Zeugenaussagen haben wir ein Bild von dem Angeklagten gewonnen, das ihn als feigen, willenlosen, jähzornigen Menschen mit geistiger, seelischer und moralischer Minderwertigkeit darstellt. Der Mutterboden zu dem Verbrechen ist in dem Verhältnis zwischen den beiden Angeklagten zu suchen, das Redner eingehend schildert. Er führt dann weiter u. a. folgendes aus: Ich habe nicht den Eindruck, daß Hilberts die Absicht hat, die Schuld auf seine Mitangeklagte Holtermann abzuschieben. Der Herr Vorsitzende hat ihn auf das Unzweckmäßige solchen Tuns hingewiesen. Und ich habe ihn im Gefängnis immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß er kein Interesse daran habe, die Angeklagte zu belasten. Ich habe ihn auf die ganze Schwere der Folgen hingewiesen, die er über die Frau und über die Kinder hereinbrechen lassen würde. Trotzdem ist der Angeklagte bei
seiner Behauptung geblieben. Darüber habe ich mich bei den Ausführungen des Herrn Ersten Staatsanwalts gewundert, daß lediglich niedrige Habsucht den Angeklagten zu seiner Tat bewogen hat . Ich weiß nicht, woraus man das schließen soll. Das Moment der Habsucht ist im Laufe der Verhandlung ganz in den Hintergrund getreten, die Tat ist lediglich aus dem leidenschaftlichen intimen Verkehr heraus zu erklären. Die Frau war bei dem Liebesverhältnis der stärkere Teil, was schon aus der willenlosen, feigen Natur des Angeklagten heraus zu erklären ist. Redner kommt in seiner weiteren Rede darauf zurück, daß die Angeklagte bei zwei Wahrsagerinnen gewesen ist. In Wilhelmshaven hat ihr eine Wahrsagerin vorher gesagt, sie würde aufs Land ziehen, ihr Mann würde verunglücken, und sie würde einen blonden Mann heiraten. Ich glaube nicht, daß jemand hier ist, der glaubt, daß die Wahrsagerin die Zukunft wirklich vorhergesagt hat. Wer die „Prophetin", der die gütige Natur die Gabe verliehen hat, in die Zukunft zu sehen, hier im Saale gesehen hat, wird einen klaren Begriff von dem groben Unfug erhalten haben. Die Wahrsagerin sagte nicht etwa die Zukunft voraus, sondern die Wahrsagerin bestimmte die Angeklagte zu der Tat und brachte den Angeklagten dahin, zu erzählen, er würde eine Witwe mit zwei Kindern heiraten. Das Gefährliche, das solcher Hokuspokus in sich birgt, ist uns damit klar vor Augen geführt worden . Die beiden Angeklagten kamen in einen Zustand der Liebesraserei hinein, sie lebten fortgesetzt in einer so schwülen Atmosphäre, daß sie ihre Liebe andern gegenüber nicht mehr verbergen konnten. Es war wirklich Liebe, und nicht niedrige Habsucht, die das Herz des Angeklagten gefangen hielt. Soll man denn nur von Liebe auf den Höhen des Lebens reden? Wenn der Angeklagte so lange vor der Tat den Plan hatte, Holtermann zu töten, dann mag er ihn gehabt haben, und wenn er ihn hundertmal hatte, dann
hatte er ihn hundertmal. Er hat ihn dann ebenso oft auch wieder verworfen. Er war ein viel zu wankelmütiger Mensch, als daß er zu einem festen Entschluß kommen konnte. Von Überlegung kann jedenfalls keine Rede fein. Redner schildert die Vorgänge auf dem Ball, dann auf der Bürgerversammlung und dem Nachhausewege und sagt u. a.: Der Angeklagte hat vielleicht auf dem Rückwege ernstlich mit dem Gedanken gespielt, Holtermann zu töten, aber die Überlegung läßt sich nicht Nachweisen. Es ist ausgesagt worden, der Angeklagte habe Holtermann betrunken gemacht. Das ist möglich. Vielleicht hat er vorübergehend gedacht, Holtermann könne unterwegs hinfallen und erfrieren . Es ist darauf hingewiesen worden, daß der Angeklagte in dem Saal aufgeregt hin- und hergegangen ist. Das Aus- und Abgehen war ein Beweis für den Kampf, der in dem Angeklagten tobte. Man hat aber keinen Mann vor sich, der mit Überlegung handelt. Unterwegs bekamen die beiden Streit, und da sticht der willenlose Mensch, der durch Alkoholgenuß, geschlechtliche Exzesse, das Treiben von Frau Holtermann noch willenloser geworden ist, auf seinen Gegner ein. Nach der Tat wirft der Angeklagte das Messer, das in der Gegend bekannt war, das er anderen Personen gezeigt hatte, fort; wenn er mit Überlegung gehandelt hätte, mußte er sich klar darüber sein, daß das Messer ihm zum Verräter werden könnte. Hätte er sich die Dinge überlegt, dann hätte er sich klar darüber sein müssen, daß er nach solchem Vorgehen gleich als Täter entdeckt würde. Er hätte Holtermann nur noch etwas betrunkener machen und in den Graben werfen brauchen; kein Mensch wäre dann vielleicht auf den Gedanken gekommen, daß er der Täter sei. Er hätte Holterrnann auf die Schienen legen können. Glauben Sie wirklich, daß ein Mensch, der mit Überlegung handelt, so vorgeht, wie der Angeklagte gehandelt hat? Er ersticht einen Menschen und wirft den Dolch, womit er die Tat ausgeführt hat, unmittelbar neben der Leiche hin, und dabei weiß jeder Mensch, daß der Dolch ihm gehört. Meine Herren Geschworenen, es ist vielleicht die schwerste Stunde Ihres Lebens, die Sie jetzt durchleben. Es ist vielleicht das erste und das letzte Mal, daß das Leben eines Menschen in Ihrer Hand liegt. Ich kann den beiden Menschen, die hinter mir sitzen, die qualvollen, furchtbaren Tatsachen nicht ersparen, daß ich immer wieder darauf Hinweise, daß es um ihren Kops geht. Es liegt in Ihrer Hand, ob noch ein weiteres Menschenleben oder sogar zwei vernichtet werden sollen. Meine Herren, die Todesstrafe tritt ein, wenn die Überlegung nachgewiesen wird. Wenn noch das leiseste Fünkchen von Zweifel in Ihnen lebt, dann müssen Sie die erste Frage verneinen. Redner bittet schließlich, die Frage nach mildernden Umständen zu bejahen, was er eingehend begründet. Er schließt: Meine Herren, Sie dürfen sich nicht von dem Grauenvollen der Tat in Ihrem Urteil beeinflussen lassen. Sie sitzen hier, um Recht zu sprechen. Auch ein Mann wie Hilberts hat Anspruch aus Gerechtigkeit. Das, bitte ich Sie, bei Ihren Beratungen zu berücksichtigen. — Beinahe eineinhalb Stunden hatte der Redner gesprochen.
Rechtsanwalt Greving
spricht zunächst über die Jugend der Angeklagten Holtermann, erinnert daran, daß die Zeugen sich lobend über sie ausgesprochen haben. Sie sei als gute Frau und treue Mutter geschildert worden . Bis zu den Vorgängen zu Anfang dieses Jahres habe sich in dem Leben der Frau nichts ereignet, was zu ihren Ungunsten spreche. Dann wendet er sich den Vorgängen zu, die in dem Prozeß zur Sprache gekommen find. Die Angeklagte litt unter der Tatsache, daß sie ihrem Manne untreu wurde und sich dem Hilberts preisgab. An die Tatsache, daß sie dem Manne die Treue brach, dachte sie, als sie sagte: „ Nun habe ich zwei Männer auf dem Gewissen." Der Angeklagte Hilberts behauptet, die Angeklagte Holtermann habe ihn zu der Tat getrieben. Meine Klientin bestreitet das. Und es ist nichts vorgebracht worden, was ihre Erklärung erschüttert. Ich habe deshalb gar keinen Grund, nicht auf Freisprechung zu plädieren. Redner beschäftigt sich eingehend mit Hilberts. Es sei vielleicht der Wunsch, im Unglück einen Genossen zu haben, der ihn bestimme, Frau Holtermann zu beschuldigen. Redner fragt: Glauben Sie , meine Herren Geschworenen daß der Angeklagte Hilberts den Dolch zufällig in der Tasche hatte, als er den Mord ausführte? Ich glaube, es ist wohl niemand unter Ihnen, der es tut. Einem Mann, der in solch wichtigen Fragen lügt und verschleiert, kann man auch in anderen Dingen keinen Glauben schenken. Dann darf man Hilberts auch nicht glauben, was er Belastendes gegen Frau Holtermann sagt. Das Fundament ist zu unsicher auf dem die Anklage gegen meine Klientin errichtet wird. Sie können aus solch haltlosen Angaben nicht die mit Überzeugung von der Schuld des Angeklagten ziehen. Und wenn in späteren Tagen, aus dieser Unsicherheit heraus geboren, der Gedanke in Ihnen wach werden muß: „Du hass damals doch vielleicht voreilig gehandelt," dann ist es doch geraten, die Schuldfragen zu verneinen. Redner beschäftigt sich dann eingehend mit dem Liebesverhältnis, das zwischen Hilberts und Frau Holtermann bestand. Selbstverständlich nimmt er seine Klientin dabei in Schutz, während die ganze Last der Schuld auf Hilberts geschoben wird Er fragt schließlich: Können Sie bei dieser Frau eine solche Verkommenheit der Gesinnung feststellen, daß sie dem Mörder ihres Mannes die Hand fürs Leben reichen wollte? Sie sollte einen Mörder dingen, der ihren Mann hinstreckte, und dann mit dem gedungenen Mörder vor den Altar treten, um ihm die Hand fürs Leben zu reichen? Ein Weib, das das könnte, wäre kein Mensch mehr, es wäre eine Kreatur, die man nicht nennen möchte. (Der Angeklagte beugt sich jetzt tief vornüber, er wischt ein paar mal mit der Hand über die Augen, als ob er eine Träne im Auge zerdrückt hat. Die Angeklagte, die vor einer kurzen Pause, die vor dieser Rede stattfand, alle Augenblicke zusammen zubrechen drohte, hat sich jetzt wieder ausgerafft.)
Redner schließt mit der Bitte, die Angeklagte frei zu sprechen. Sie konnte fallen, aber niemals zur Mörderin ihres Mannes werden. Sie erreichte dadurch nichts, denn Hilberts hatte sie, dem gegenüber gab sie alles auf. Stützen Sie sich nicht auf die Bekundungen eines Mannes, der keine Glaubwürdigkeit besitzt . — Reichlich so lange wie die beiden ersten Reden hatte auch diese eindrucksvolle Verteidigungsrede gedauert.
Der Erste Staatsanwalt nimmt noch einmal das Wort, ebenso sprechen die beiden Verteidiger noch einmal. Rechtsanwalt Ehlermann hatte insofern einen schweren Stand, als er nach zwei Seiten zu kämpfen hatte . Sowohl der Staatsanwalt als auch der Verteidiger boten alles auf, Hilberts zu belasten.
Der Vorsitzende fragt nochmals den Angeklagten Hilberts eindringlich, ob er dabei bleibe, daß er die Tat nicht mit Überlegung ausgeführt habe, und daß er von der Frau Holtermann dazu angestiftet worden sei . Der Angeklagte antwortet mit einem bestimmten „Ja!"
Die Angeklagte Holtermann erklärt auf die Frage, ob sie noch etwas zu sagen habe: „Ich möchte den Herren Geschworene nochmals sagen, daß ich unschuldig bin!"
Nach erfolgter Rechtsbelehrung ziehen sich die Geschworenen um 9 3/4 Uhr zur Beratung zurück.
Um 11 Uhr betreten die Geschworenen wieder den Saal, worauf der Obmann, Gerst - Cloppenburg, den Wahrspruch verkündet. Fragen 1 und 2 werden verneint, Frage 4 bejaht, Fragen 5, 6 und 7 verneint (siehe oben).
Danach ist also der Angeklagte Hilberts von dem Mord mit Überlegung freigesprochen, aber des Totschlags schuldig befunden worden. Sämtliche Schuldfragen mit Bezug auf
Frau Holtermann wurden verneint.
Erster Staatsanwalt Riesebieter beantragt, Frau Holtermann freizusprechenund Hilberts zu 15 Jahren Zuchthaus zu verurteilen.
Rechtsanwalt EhIermann bittet, auf eine niedrigere Strafe zu erkennen. Man möge berücksichtigen, daß der Angeklagte unter dem Einfluß von Frau Holtermann, ja zu ihr in absoluter Geschlechtshörigkeit gestanden habe. Auch möge man seine moralische und geistige Minderwertigkeit und seine niedrige Bildung berücksichtigen.
Der Angeklagte Hilberts bittet Um Milde.
Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück. Währenddessen setzt die Angeklagte ihren neben ihr stehenden schwarzen Krepphut auf und spricht einige Worte mit ihrem Verteidiger.
Das Urteil
lautete : Die Angeklagte Holtermann wird freigesprochen, der Angeklagte Hilberts wird zu 15 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust verurteilt.
Damit war das Drama abgeschlossen. Der Gerichtssaal leerte sich. Frau Holtermann begab sich zu ihren Verwandten und küßte sie leidenschaftlich. Hilberts wurde abgeführt. Die Tür schloß sich hinter ihm. Einige Tage noch, dann wird er nach Vechta gebracht, um hinter Zuchthausmauern seine schwere Tat zu sühnen. Die Angeklagten hatten sich während der ganzen Verhandlung nicht ein einziges Mal angesehen.
Schluß der Verhandlung nach 11 Uhr. (1447)
Überfall bei Tweelbäke am 30. Dezember 1912
30. Dezember 1912 - "Zeitung für Stadt und Land"
Mordanfall auf der Bremerchaussee.
Gerüchte über einen Mordanfall wann am gestrigen Lage in Umlauf. Wie man hört, liegt ihnen folgende Tatsache zu Grunde: Am Sonnabendabend zwischen 8 und 9 Uhr fuhr der
bei der Firma Oetken beschäftigte Techniker Barkemeyer mit dem Rade nach seiner in Kimmen wohnenden Eltern in dem jenseits Tweelbäke gelogenen Fahrenbusch, den die Chaussee durchschneidet, wurde er aus dem Hinterhalt angeschossen und schwer verletzt. Nur mit Mühe konnte er sich von dem etwa beim Kilometerstein 9 gelegenen Tatort nach der Schwerdtmannschen Wirtschaft schleppen, wo er zusammenbrach. Telephonisch wurde von Oldenburg aus ein Arzt herbeigeholt, der die sofortige Überführung ins Krankenhaus anordnrte. Dir Verletzung ist eine sehr schwere . Von dem Täter fehlt noch jede Spur; auch über die Motive der Tat herrscht, noch Dunkel. Von der Gendarmerie wurde unter Mitwirkung der Einwohnerschaft im Laufe des Sonntags die ganze Gegend abgesucht, aber ohne Erfolg.
In einem anderen Berichte heißt es: Barkemeyer erhielt einen Schrotschuß an den Kopf, so daß er von seinem Rade fiel und bewußtlos liegen blieb . Als er sich wieder erholte, war das Rad verschwunden. Es wird nun angenommen, daß der Schuß in räuberischer Absicht auf B. abgegeben wurde, und daß der Schütze das Rad geraubt habe. Ob dem B . auch noch andere Gegenstände und Geld abhanden gekommen sind, ist hier noch nicht belannt . Die Gendarmerie hat sofort umfangreiche Recherchen ängestellt. Die Schußverletzung des B . soll ziemlich erheblich sein.
In einer dritten Zuschrift heißt es: Der Täter hat wahrscheinlich versteckt hinter einem Baume gestanden und hatte es auf einen Raubanfall abgesehen. B. wurde am Kopfe so schwer verletzt, daß er bewußtlos lieben blieb. Von dem Tater, der auf dem Rade des Verletzten geflüchtet ist, hat man noch keine Spur. Die Staatsanwaltschaft und mehrere Gendarmen mit eurem Polizeihund hatten sich gestern morgen zwecks Feststellung des Tatbestandes nach dem Tatort begeben. der Schwerverletzte ist nach dem Krankenhause gebracht, wo er bis gestern noch nicht vernehmungsfähig war.
31. Dezember 1912 - "Zeitung für Stadt und Land"
Der ÜberfalI bei Tweelbäke.
Oldenburg . 31 . Tez.
Wir erhalten noch folgende Darstellung des Falles : Der Techniker Barkemeyer der bei Lübben in der Nelkenstraße wohnte, ist um 8 Uhr hier fortgefahren und gegen 9 Uhr beim 8,8 Kilometerstein angelangt . Am Waldessäume hat er einen Mann mit einem Schlapphute stehen sehen, der einen Schuß auf ihn abgab. Barkrmeyer ist dann in das Haus des Anbauers Claußen gelaufen, wo er um Wasser bat. Claußen war erst in dem Glauben, der Fremde wolle sich abwaschcn, und reichte ihm das Wasser. B. trank es aber in einem Zuge aus und erzählte dann von dem Überfall, wie wir ihn oben geschildert haben. Gleich darauf brach er bewustlos zusammen, so daß man Einzelheiten nicht mehr erfuhr. Claußen benachrichtigte Dr. Wintermann, der bald erschien, den Notverband anlegte und für die Ueberführung des Verletzten ins .Hospital sorgte. Die Annahme, der Täter habe das Rad gestohlen und sei damit geflohen, stimmt nicht. Ein Anwohner der Chaussee, der von der Tat noch nicht gehört hatte, fand das Rad aus der Straße, und in der Annahme, der Eigentümer werde sich noch melden, brachte er es einstweilen in Sicherheit. Am anderen Tage stellte sich dann heraus, wie die Dinge zusammenhängen . Bei den weiteren Nachforschungen fand man etwa lOO Meter diesseits des Tatortes, der durch eine große Blutlache gekennzeichnet war, den Hut Barkemeyers. An der entgegengesetzten Seite fand man seinen Überzieher. An den Blutspuren konnte man feststellen, daß Barkemeyer selbst an der betreffenden Stelle gewesen ist. Anzunehmen ist, daß ihn nach dem Schuß die Angst gepackt hat und er dann erst eine Strecke zurückgelaufen ist; danach hat er dann die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Vielleicht ist er nach dem Übrrfall zunächst auch ganz wirr im Kopfe gewesen, so daß er planlos hin und hergelaufen ist. B. wird allgemein als herzensguter Mensch geschildert, der weder hier, noch in Kimmen mit jemand verfeindet war . Man glaubt deshalb nicht, daß ein Racheakt in Frage kommt.
Auch kann man wohl kaum von einem versuchten Raubmord sprechen, da dem Überfallenen, soweit man feststellen konnte, nichts gestohlen worden ist. An einen Ueberfall durch einen reisenden Strolch glaubt man deshalb nicht, weil es sich bei dem Schuß um eine Schrotladung gehandelt hat. Würde ein Wegelagerer in Frage kommen, dann hätte sich dieser jedenfalls eher eines Revolvers als Schußwaffe bedient. Auch würde ein solcher doch das größte Interesse daran gehabt haben, in den Besitz des Rades, des Geldes und der Wertsachen zu kommen. Möglich wäre einmal, daß der Täter es auf einen anderen abgesehen hätte und Barkemeyer so das Opfer eines verhängnisvollen Irrtums geworden wäre. Andererseits denkt man auch, daß ein Wilddieb als Täter in Frage kommt. Es ist festgestellt, daß Barkemeher an seinem Rade keine brennende Laterne führte, und deshalb taucht der Gedanke auf, daß irgend ein Wilddieb oder Jäger ein Geräusch gehört und gleich geschossen hat, in der Annahme, es handle sich um einen Rehdock. In dieser Richtung hat man dann auch umfangreiche Nachforschungen angestellt, doch konnte der Täter noch nicht gefaßt werden. U. a. war der Landwirt M. in M der Tat verdächtig, da man von ihm weiß, daß er sich wiederholt der Wilddieberei schuldig gemacht hat . Sein Gewehr wurde zu Büchsenmacher Köppens geschickt, der aber nicht feststellte, daß der fragliche Schuß aus dessen Gewehr abgegeben worden sei. M. wurde deshalb nicht festgenommen.
Der Schuß ist nach den Ermittelungen der Staatsanwaltschaft wahrscheinlich aus einer Jagdflinte mit 3.3 Millimeter Schrotpatronen abgegeben worden . Die Orts-Gendarmerie vernimmt jetzt, soweit möglich, die gesamte Bewohnerschaft der näheren und weiteren Umgebung, in der Hoffnung, auf diese Weise noch irgend welche Anhaltspunkle zu gewinnen. Besonders hofft sie, daß die Schrotpatrone den Anstoß zu irgend welchen Ermittelungen geben könnte.
In der Bevölkerung macht sich naturgemäß eine gewisse Unruhe bemerkbar: wer es irgendwie kann, vermeidet das Passieren des Hemmelsbäker Fuhrenkamps bei Dunkelheit; bildet doch die in ihm liegende Strecke der Bremerchaussee ohnehin einen etwas einfamen Weg. Außerdem bringt man den Überfall mit verschiedenen Schießereien in Zusammenhang, die sich im Laufe des Jahres in der Gegend ereignet haben. Am Schulwege wurden zwei Landleute auf ihrem Wagen angeschossen . Eine ähnliche Affäre ereignete sich auf der Hatterchaussee und an einem anderen Orte; die Ermittelung des Täters gelang in keinem Fall. Es wurde schon die Vermutung ausgesprochen, daß es sich um die Taten eines verbrecherisch veranlagten Menschen handeln könnte, dessen Handlungsweise ähnliche Motive wie beim Brandstiften zu Grunde lägen. Nicht ausgeschlossen ist es, daß der Wohnort des Täters in größerer Entfernung sich befindet und daß er die Gegend von Tweelbäke nur deshalb ausgesucht bat, weil hier ein leichtes Entkommen möglich ist. Sehr wünschenswert wäre es jedenfalls , wenn irgend welche Verdachtsmomente sofort der Gendarmerie mitgeteillt würden.
Glücklicherweise bat sich das Befinden Barkemeyers etwas gebessert. Er hat in der letzten Nacht ziemlich gut geschlafen, und es besteht Hoffnung, daß er durckkommt. Die Besinnung hat er wiedererhalten , doch kannte er bis jetzt noch nicht vernommen werden.
Wie uns weiter mitgeteilt wird, ist vor etwa drei Wochen in derselben Gegend auf den Güterbodenarbeiter W. aus Tweelbäke, der auch mir dem Rade fuhr, geschossen worden, doch wurde er nicht getroffen. Leider hat er keine Anzeige erstattet. Wir werden noch daraus hingewiesen, daß der Unglückliche Täler auch einer der vielen Jäger sein kann, die überall herumknallen und die Landstraßen und Wege unsicher machen. Es ist ja üblich, daß sie sich im Dunkeln an Wegen ansetzen, um dem Wild, das über den etwas hellen Weg zur Aesung zieht, das Lebenslicht auszublasen. Wie oft ist schon auf Menschen geschossen worden, die der Schütze für Wild hielt; und wie oft ist schon ein Malheur passiert durch die Schüsse, die im dunkeln Hinlerland, das der Schütze nicht durchschauen kann, unschuldige Opfer fanden. Die ganze Situation des Tweelbäker Falles ist so, daß man diesen Verdacht nicht von der Hand weisen kann, jedenfalls gibt er mit Anlaß, den Täter herauszubringen
2. Januar 1913 - "Zeitung für Stadt und Land"
Der Überfall bei Tweelbäke. * Oldenburg, 1 . Jan.
Wir erhalten hierzu noch folgende Ausführungen: Von der Gendarmerie werden die Nachforschungen in der betrübenden Affäre mit größtem Eifer fortgesetzt, bisher aber immer noch ohne Erfolg . Man hofft aber, wenn der Angeschossene erst vernehmungsfähig ist, von ihm einige Auskunft über den äußeren Eindruck des mutmaßlichen Täters zu erhalten. Allgemein wundert man sich, wie Barkemeyer noch die Kraft gefunden hat , nach dem Hause des Anbauers Ctaußen zu gelangen. Die Tat ereignete sich nämlich am westlichen Ende des Hemmelsbäker Fuhrenkamps. Der Verletzte ist zunächst, nach den Blutspuren zu rechnen, etwa 100 Meter westwärts gelaufen (hier war auch das nächste Haus zu erreichen), hat sich dann aber umgewandt und ist aus der Chaussee durch den 600 bis 700 Meter langen Busch und nach dessen Durchquerung noch nach dem etwa 100 Meter von der Chaussee abseits gelegenen Hause des Anbauers Claußen gegangen. Nachdem er hier Wasser getrunken und von dem Manne mit dem Schlapphut gesprochen hatte, brach er bewußtlos zusammen. Einen Mann mit einem Schlapphut will auch ein junges Mädchen gesehen haben.
Über die Ursachen der Tat sind in der Bevölkerung, die die Gegend genau kennt, die Meinungen geteilt. Man weist darauf hin, daß sich in Tweelbäke im letzten Jahre bereits mehrmals unheimliche Schießereien zugetragen haben. Am Abend des 29. August wurde aus zwei von einer Festlichkeit in Hatten kommende Radfahrer (den Sohn des Wirts Krumland, Bremer Chaussee, und den Maurer Kieselhorst) auf der Hatter Chaussee geschossen . Etwas später ereignete sich eine ähnliche Sache am Schulwege. Die Landwirte Halte und Ramke fuhren abends nach Hause, als schräg von hinten auf sie gefeuert wurde. Beide fanden später zahlreiche Schrotkörner, sog. Finkenkorn, im Stoff von Jackett und Weste. Der eine von ihnen erhielt auch Schußverletzungen im Gesicht. Im Ganzen wurden 5 Schüsse aus einem Revolver oder Tescheng auf sie äbgefeuert. Sie sahen dann einen Mann aufs Rad springen und verschwinden.
Im Fuhrenkamp wurde aus den Milchfuhrmann M. geschossen, glücklicherweise ohne ihn zu treffen. Er will einen Mann mit dunklem oder blauem Anzuge und ähnlichem Hute in den Tannen gesehen haben.
Am Sonnabend vor drei Wochen wurde auf den Güterbodenarbeiter Wichmann geschossen, als er vom Dienst kam. Etwa 11.30 Uhr abends hatte er die Hatter Chaussee erreicht und wollte in diese einbiegen als auf der gegenüberliegenden Seite ein Schuß auf ihn abgegeben wurde. Stücke von einem Pfropfen oder dergl. trafen ihn an der Backe, die noch mehrere Tage schmerzte. In letzterem Falle wurde keine Anzeige erstattet . Bei den übrigen Schießereien verliefen die Nachforschungen aber ergebnislos.
Der Eindruck vertieft sich aber auch immer mehr, daß ein Wilderer oder Jäger am Wege gelegen und den ohne Laterne fahrenden Radfahrer in der tiefen Dunkelheit für ein Stück Wild gehalten hat. Als er dann die schreckliche Wirkung seines Schusses bemerkte, hat er schleunigst das Weite gesucht. Daß in ähnlicher Weise häufiger in der Gegend von Tweelbäke gejagt wird, wird allgemein behauptet. Damit würde auch die Tatsache übereinstimmen, daß sich bei dem von Vielen gehörten Schuß zunächst niemand sonderlich aufgeregt hat. Sogar ein Radfahrer, der noch im Busche fuhr, ist ruhig weitergefahren, als er den Knall hörte, aber nichts von Hilferufen vernahm.
Unter solchen Umständen erscheint es erklärlich, daß die Aufklärungsarbeiten der Gendarmerie auf ganz außerordentliche Schwierigkeiten stößt. Pflicht eines jeden, der irgendwelche Wahrnehmungen gemacht hat, ist es, diese unverzüglich der Staatsanwaltschaft mitzuteilen, selbst wenn sie scheinbar ganz nebensächlicher Natur sind. Sehr wünschenswert wäre es zugleich, wenn den Wilderern , besonders den nächtlichen, energischer als bisher zu Leibe gegangen und wenn gerichtlicherseits das Strafmaß verschärft würde. Sie sind aus alle Fälle eine schwere Gefahr für den Verkehr.
Der Zustand des Verletzten ist, wie wir heute morgen erfahren, zwar noch immer ernst, aber es scheint doch allmählich eine Besserung in seinem Befinden einzutreten . Dieser Tage hatte Barkemeyer Besuch von seiner Mutter, womit er sich etwas unterhalten konnte. Man darf deshalb, wenn die Besserung derart anhält, hoffen, daß man bald Näheres von ihm erfährt.
Der Vollständigkeit halber sei noch ein Gerücht über die mutmaßliche Ursache des Überfalles wiedergegeben, das an Bedeutung gewonnen hat. Danach ist die Möglichkeit, daß Barkemeyer das Opfer einer Verwechselung geworden ist, und daß ein anderer gemeint war, nicht ausgeschlossen. Gewisse Ausschlüsse in dieser Beziehung erwartet man, sobald Barkemeyer vernehmungsfähig ist.
3. Januar 1913 - "Zeitung für Stadt und Land"
Zum Überfall bei Tweelbäke
Der verletzte Techniker Barkemeyerer befindet sich jetzt glücklicherweise auf dem Wege der Besserung. Die rechte Kopsseite ist allerdings noch stark angeschwollen, doch macht sich der Heilprozeß schon bemerkbar . Ob das rechte Auge gelitten hat ist noch zweifelhaft. Der Staatsanwaltschaft wurde mitgeteilt, daß der Verletzte jetzt vernehmungsfähig ist. Im Laufe des heutigen Tages wird sie sich wahrscheinlich zu ihm begeben.
Bezüglich des Täters verfolgt man jetzt eine neue Spur. Man hat einen kürzlich aus dem Zuchthaus entlassenen Mann, der ein Sittlichkeitsverbrechen an einem Mädchen versuchte, aber glücklicherweise gestört wurde, in Verdacht. Er ist wiederholt auf der Bremerchaussee mit einem Rad gesehen worden. Zwei Mädchen haben, wenige Minuten, nachdem die Tat geschehen, dort ein Rad an einem Baum stehen sehen. Das Rad des Verletzten kann es nicht gewesen sein; dieses hat am Boden gelegen. Am Donnerstag soll der Verdächtige in der Nähe der Osenbergs bemerkt worden sein . Die Gendarmerie fahndet mit aller Kraft auf ihn.
Auch von anderer Seite teilt man uns mit, daß der Verdächtige, er heißt Koch, tatsächlich wiederholt in der Gegend von Kreyenbrück und Bümmerstede gesehen worden ist. Wahrscheinlich treibt ihn der Hunger in die Nähe der Wohnungen, wo er durch Einbrüche oder dergleichen sich Nahrung verschaffen kann. Am vergangenen Sonntag hatte er sich abends in den Kuhstall eines Bauernhauses in Kreyenbrück eingeschlichen, wurde hier aber von den Mädchen zwischen den Kühen bemerk und verscheucht. Gestern betrat er
eine einsam gelegene Wirtschaft in Bümmerstede und bat um Essen . Der Wirt erkannte ihn und machte sich auf, um einige handfeste Männer zu holen. Inzwischen trat aber ein
Gast ein, der Koch nicht kannte, und erzählte, die Gendarmerie sei mit Hunden in Bümmerstede und werde man den Koch wohl bald haben. Schleunigst machte dieser sich natürlich aus dem Staube. Die Gendarmerie suchte mit Polizeihunden während des ganzen Tages die Gegend ab. Die Verhaftung dürfte nur noch eine Frage weniger Tage sein, da Koch ohne Mittel ist und die gesamte Bevölkerung an den Ermittelungen seines Aufenthaltsortes teilnimmt.
Von dritter Seite wird uns geschrieben: Eine große Razzia auf den Sittlichkeitsverbrecher Heinrich Koch, der erst kürzlich aus dem Zuchthause entlassen wurde, fand heute morgen in aller Hergottsfrühe in der Umgebung von Bümmerstede statt. Am Abend vorher war sämtlichen Einwohnern der Ortschaft gekündigt worden. Nachdem sämtliche dort befindlichen Schafkoven revidiert waren und ein jedenfalls harmloser Obdachloser verhaftet worden war, ging die Jagd auf den Verbrecher weiter los. Um 1/2 10 Uhr ging zufällig der Bahnhofswirt Pontow vom Verschiebebahnhofe nach Bümmerstede und hörte von der Jagd. Er hatte einen Mann durch die Heide von Tweelbäke kommen sehen, ging auf diesen los, erreichte ihn auf dem Exerzierplatze in Bümmerstede, redete ihn freundlich an und nahm ihn mit bis zur Plümerschen Wirtschaft. Nach der Beschreibung war es der Verbrecher Koch. Pontow setzte sich aufs Rad, um die Gendarmerie zu benachrichtigen, erreichte auch einen Gendarmen bei der Speckmannschen Wirtschaft, und dann ging die Jagd von neuem los.
Leider war der Verbrecher während der Zeit fortgegangen und ist gleich darauf in den Fluhren der Osenberge, trotz sofortiger Verfolgung, leider entkommen. Interessant war
die Bewaffnung der gekündigten Leute von Bümmerstede anzusehen; der eine, ein riesenhafter Mann, war mit einem großen Knüttel bewaffnet, weiter hatte man sich mit Jagdgewehren, Säbeln, Forken usw, versehen, ein rechtes Bild der Bürgerwehr von 1812.
4. Januar 1913 - "Zeitung für Stadt und Land"
Zum Überfall bei Tweelbäke.
Der Zuchthäusler Koch , den man mit dem Überfall in Twelebäke in Verbindung dringt, hat sich gestern freiwillig der Gendarmerie gestellt. Hunger und Entbehrung haben ihn wohl dazu veranlaßt; auch hat er sich wohl gesagt, daß eine Flucht in andere Gegenden oder ins Ausland bei seiner völligen Mittellosigkeit zwecklos sei, und daß er hier, wo die ganze Bevölkerung auf ihn fahndet, sich doch nicht lange mehr hätte verbergen können . Mit dem Überfall will er aber nicht in Verbindung stehen. Er weist darauf hin, daß er ja gar nicht im Besitze von Schußwaffen sei. Ob irgendwo eine Flinte gestohlen worden ist, konnte noch nicht ermittelt werden. Ein weggeworfenes Gewehr ist ebenfalls nicht gefunden worden, so daß auch der Verdacht, Koch könnte sich nach der Tat einfach der Schußwaffe entledigt haben, vorläufig durch nichts gestützt ist.
Die gestern erfolgte Vernehmung des Technikers Barkemeyer brachte neue Gesichtspunkte nicht zu Tage. Er hat einen Mann nur ganz oberflächlich gesehen, kann eine nähere Personalbeschreibung aber nicht geben. Die Gendarmerie steht daher nach wie vor vor einem Rätsel, sie setzt ihre Ermittelungen natürlich mit größtem Eifer fort. Eine bestimmte Spur wird auch verfolgt; doch sind die Verdachtsgründe so schwankend , daß sich noch gar nicht übersehen läßt, ob irgend etwas dabei herauskommt. Für die Bevölkerung, namentlich für den weiblichen Teil, ist es allerdings schon eine große Beruhigung, daß wenigstens Koch hinter Schloß und Riegel sitzt, so daß von ihm nichts mehr zu befürchten ist.
Allgemein anerkannt wird die Energie und Umsicht, mit der die Gendarmerie zu Werke geht . Sie hat alles darangesetzt, in der Sache vorwärts zu kommen. Bedauert werden die hier wohnenden Angehörigen von Koch, brave, rechtschaffene Leute, die sich allgemeinen Ansehens bei ihren Mitbürgern erfreuen. Sie haden durch ihn schon viel Kummer erlebt.
Eine eigentümliche Wirkung hat der Überfall übrigens noch gehabt: Die Waffenhändler haben in den letzten Tagen bedeutend mehr Schußwaffen als sonst umgesetzt . Zweifellos haben manche Leute, die viel auf einsamen Wegen fahren oder gehen müssen, wie Landreisende usw., aus der Angelegenheit eine Lehre gezogen und sich eine Waffe besorgt, um
etwaigen Wegelagerern nicht schutzlos ausgeliesert zu sein.
5. Januar 1913 - "Zeitung für Stadt und Land"
Zum Tweelbäker Überfall. Als dringend verdächtig, den Ueberfall auf den Techniker Barkemeyer ausgeführt zu haben, verhaftete die Gendarmerie gestern den in der Mühlenstraße Hierselbst wohnhaften Eisenbahnarbeiter Halle, früher Unteroffizier beim Oldenb. Dragoner-Regiment Nr . 19, der dann aber entlassen wurde und eine zeitlang als Rottenarbeiter bei der Eisenbahn arbeitete. H. wurde bereits nach dem Tatorte geführt, wo es der Gendarmerie gelang, das Versteck der Flinte, mit der er auf B. geschossen haben soll, ausfindig zu machen und die Büchse zutage zu fördern. Halle hat die Tat allerdings noch nicht eingestanden; er bestreitet auch noch, daß er die Flinte in Gebrauch hatte; nach Lage der Sache ist an seiner Täterschaft aber kaum zu zweifeln. Erwiesen ist, daß er an dem fraglichen Abend vor der Koopmannschen Wirtschaft ein Rad gestöhlen hat, das er bei der Wirtschaft von Krumland gegen das später beim Fuhrenkamp aufgefundene nochmals umtauschte, weil es ihm zu hoch war. Der Gendarm Winter lieferte Halle gestern nachmittag in das Untersuchungsgefängnis ein. Den Transport begleitete eine ungeheure Menschenmenge, die den Täter nicht gerade mit Kosenamen bedachte. Halle, der noch hohe Kavalleriestiefel und eine blaue Eisenbahnerlitewka trug, machte äußerlich einen guten Eindruck, so daß man ihm ohne weiteres ein solches Verbrechen kaum zutraut. Bei den Recherchen, die schließlich zur Verhaftung führten, beteiligte sich in hervorragender Weise die Osternburger Gendarmerie.
Wir erhalten noch folgende Zuschrift: Am Tage des Überfalls bei Tweelbäke wurde vor der Meyerschen Wirtschaft in Drielake ein Fahrrad gestohlen. Das Fahrrad wurde bei der Krumlandschen Wirtschaft mit einem anderen vertauscht, das nachher in Tweelbäke gefunden wurde. Der Verdacht, den Diebstahl ausgesührt zu haben, lenkte sich, auf den Bahnarbeiter Halle. Dieser hatte s. Zt. als Unteroffizier beim Dragoner-Regiment wiederholt Fahrraddiebstähle ausgeführt und sich auch sonst Unredlichkeiten zu schulden kommen lassen. Er war deshalb vom Militär entlassen worden.
Halle wird uns weiter als ein abnorm veranlagter Mensch geschildert. Gestern morgen wurde er auf seiner Arbeitsstätte verhaftet. Die Gendarmen führten ihn nach Tweelbäke, wo der Überfall erfolgt ist, und fand mit Hilfe von Polizeihunden im Gebüsch ein Gewehr, das Halle vor einiger Zeit von seinem Schwager geliehen haben soll. Weiter wird uns mitgeteilt, daß die Gendarmerie in seiner Wohnung in seinem Schrank, der verschlossen war, zwei Patronen gefunden hat. Auf Befragen teilt uns seine Wirtin mit, daß sein Bett in der Nacht nach dem Überfall nicht benutzt worden iss. Ob Halle ein Gewehr in seiner Wohnung gehabt hat, ist seiner Wirtin nicht bekannt, da er seinen Schrank stets verschlossen hielt. Man muß abwarten , ob die Verdachtsmomente sich als begründet erweisen, zumal wir die Mitteilungen, die uns zum Teil erst in später Abendstunde zugingen, nicht alle auf ihre Richtigkeit hin prüfen konnten.
6. Januar 1913 - "Zeitung für Stadt und Land"
Zum Überfall bei Tweelbäke
Man schreibt uns aus Tweelbäke:
Nachdem der Rottenarbeiter Halle von hier und der Arbeiter Koch aus Bümmerstede hinter Schloß und Riegel gebracht sind, atmen die hiesigen Einwohner erleichtert auf, und man kann es ihnen nachfühlen, wenn man weiß, in welcher Angst sie in der letzten Zeit gelebt haben. Koch hat schon zwei schwere Strafen wegen Sittlichkeits-Verbrechens verbüßt. Halle hat sich zwar zu einem Geständnis noch nicht bequemt, doch sind die Verdachtsmomenente schwerwiegender Art. Am Abend der Tat kamen dee Dienstmagd Marie Brinkmann und deren Schwester auf dem Rade von Lintel, von wo sie um 8 .30 Uhr weggefahren waren. Am Fußwege neben der Chaussee beim Hemmelsbäker Fuhrenkamp fanden sie ein Rad quer über den Fußweg liegen; es war das des Architekten Barkemeyer. Kurz vor ihnen bemerkten sie einen Radfahrer, dem sie in ihrer Angst näherzukommen versuchten, plötzlich war er jedoch verschwunden, und bald daraus sahen sie ein herrenloses Rad rechts am Wege stehen. Halle — man nimmt an , daß er es gewesen ist — ist hier jedenfalls vom Rade gesprungen, hat das Gewehr weggeworfen und sich sodann aus dem Staube gemacht; das Gewehr, das Angeschuldigter als seinem Schwager Harms gehörig bezeichnete , wurde drei bis vier Meter von dem Standorte des Fahrrades und in der Nähe des Tatortes gefunden. Tatsächlich hat Halle vor ca. acht Wochen ein Gewehr von seinem Schwager entliehen. Er wohnte bekanntlich in der Mühlenstraße, und zwar mit einem gewissen Eilers zusammen. Dieser hat zwischen den Sachen Halles zwei Patronen gefunden, deren Zeichen und Nummer genau dieselben sind, die der Stöpsel der am Tatorte abgeschossenen Patrone trägt. Halle ist gefürchtet, und bei seinen Eltern und seinen hier wohnhaften Schwiegereltern — ehrenwetten Leuten — darf er seit einiger Zeit das Haus nicht mehr betreten . Man muß abwarten, ob die Braut des H. belastend für ihn aussagen wird. Auch die Schießerei auf den Milchfuhrmann Mönnich wird jetzt aus das Konto Halles gesetzt , denn die Größe der Person sowohl als deren Kleidung passen auf die des Angeschuldigten. Halle hat sich auch wegen Diebstahls zu verantworten, denn er stahl aus einem Eisenbahnwagen ein größeres, in Neuenburg aufgegebenes Quantum Butter, zwei von Heintzen in Westerstede zum Versand gebrachte Schinken und einen größeren Karton mit Marine-Kleidungsstücken, die für Straßburg bestimmt waren. Großes Lob verdient die Osternburger Gendarmerie, daß sie so energisch vorgegangen ist; Tag und Nacht hat sie in hiesiger und benachbarter Gegend gearbeitet.
Die Verdachtsmomente gegen den verhafteten Eisenbahnarbeiter Halle haben sich inzwischen noch verstärkt, so daß allgemein angenommen wird, daß er der Täter ist. Sein bisheriger Lebenslauf zeigt übrigens eine solche Menge von Straftaten, daß man ohnehin den Eindruck gewinnt, es mit einem verbrecherisch veranlagten Menschen zu tun zu haben.
Er steht jetzt im 26 . Lebensjahr. Bis vor etwa zwei Jahren war er Unteroffizier im Dragoner-Regiment. In seiner Korporalschaft kamen fortgesetzt Diebstähle an Geld, Esswaren und Kleidungsstücken vor, die er selber anzeigte. Beim Revidieren der Spinde war er dann der eifrigste. Einmal brachte er einen Sergeanten zur Anzeige, der ihm sein Rad entwendet haben sollte. Dieser wurde auch kriegsgerichtlich verurteilt und entlassen. Schließlich stellte sich aber heraus daß Halle die Diebstähle in der Korporalschast selbst begangen hatte, und daß er das Rad, wegen dessen der Sergeant verurteilt wurde, selber auch gestohlen hatte. Ueber dreißig Diebstähle wurden ihm nachgewiesen. Er erhielt 1 1/2 Jahre Festungshaft, wurde degradiert und in die 2 . Klasse des Soldatenstandes versetzt.
Seit einiger Zeit arbeitete er als Kolonnenarbeiter beim Umbau des Bahnhofs Oldenburg. Häufig wurden seinen Mitarbeitern seit seinem Eintritt Esswaren und dergleichen gestohlen, so daß sie schon im Geheimen einen Verdacht auf ihn geworfen hatten. Da er sehr fix und gewandt war, wurde er während des starken Weihnachtsverkehrs zur Hilfeleistung bei der Eilgutabfertigung abkommandiert. Am ersten Tage seiner Beschäftigung wurde hier ein Karton mit Butter gestohlen, einige Tage später eine Sendung Wurstwaren. Durch sein Benehmen machte er sich verdächtig. Der Leiter der Eilgutabfertignng stellte sofort Erhebungen nach seinem Vorleben an und benachrichtigte die Polizei, nachdem er die früheren Straftaten erfahren hatte . Wie begründet der Verdacht war, zeigte, um das vorweg zu bemerken, dann ja auch die am Sonnabend vorgenommene Haussuchung . Ein ganzer Berg gestohlener Sachen wurde zutage gefördert , darunter zwei prachtvolle, noch nicht einmal angeschnittene Schinken, Wurstwaren, Butter, Marinekleidung und Schuhe mit der Bezeichnung "B.A.K. 1.1.11" (Herstellungsmarkierung des Bekleidungs-Amt Kiel vom 1.1.1911) Die Marineschuhe hatte er bereits an einen Mitbewohner verschenkt. Außerdem fand man eine dem Halle gehörige Hose, die stark mit Schmutz und Schlamm bedeckt war, die er zweifellos am Tage des Ueberfalles getragen hat.
Vor einigen Wochen mietete Halle ein Logis bei einer Wirtin an der Mühlenstraße. Zwei Tage darauf wurde einem Schlafkollegen ein Portemonnaie mit 16 M gestohlen. Man beschuldigte ihn des Diebstahls, nachdem man Kenntnis von seinem Vorleben erhalten hatte. Er gestand die Tat ein und erklärte sich bereit, am 1 . Januar den Betrag zu erstatten. Das geschah aber nicht, so daß am Freitag wegen dieses Falles ebenfalls Anzeige erfolgte.
Seinem Schlafkollegen und seiner Wirtin kam Halle seit dem Diebstahl überaus verdächtig vor. Man bemerkte, daß er stets einen Revolver bei sich trug und auch Gewehrpatronen besaß. Hiervon wurde die Polizei verständigt, als die Zeitungen die Mitteilung von der gefundenen Patronenhülse brachten. Am Tage des Ueberfalles kam er abends 11 1/2 Uhr zu Hause und hantierte in verdächtiger Weise herum. Auch trug er ein merkwürdiges Wesen zur Schau.
Am zweiten Weihnachtstage hatte Halle schon Logis bei einer Frau B. am inneren Damm gemietet, das er am vorigen Sonntag, vormittags, bezog. Am Nachmittage fiel seiner Wirtin sofort auf, daß er sämtliche ihm zur Verfügung gestellten Behälter, wie Schränke und Tische, überaus sorgfältig verschlossen hatte. Er war aber ein sehr ruhiger Mieter. Selten bemerkte man sein Kommen und Gehen. Man kann sich den Schrecken seiner Wirtin vorstellen, als sie am Sonnabend erfuhr, welch gefährlichen Burschen sie beherbergt hatte, und als sie den Haufen Diebesgut sah, den die Gendarmerie in ihren Schränken vorfand.
Sowohl in seiner letzten als auch in seiner vorletzten Wohnung ist Halle wiederholt nachts ausgeblieben oder sehr spät heimgekommen. Er begründete das mit einem Besuch bei seinen Verwandten in Tweelbäke. Tatsächlich ist er aber nie dagewesen. Von einem Verwandten hatte er schon vor Wochen eine Flinte geliehen. Man glaubte schon, er habe sie versetzt. Jetzt wurde sie, wie schon bemerkt, von Polizeihunden, im Fuhrenkamp verscharrt, aufgefunden . Ein Schuß war noch darin. Die von seinem Schlafkollegen bei ihm gesehenen Patronen (3,5) sind von derselben Art wie die än der Unfallstelle gefundene Hülfe. Wenn man sich dies alles vor Augen hält , gewinnt die Meinung, Das Halle der Täter ist, und daß es sich um einen wohlüberlegten Raubmord handelte, an Bedeutung. Hinzu kommt noch eins. Am Sonnabend, den 30. November, wurde bekanntlich abends 11.30 Uhr auf den Güterbodennarbeiter Wichmann bei der Einmündung der Hatter Chaussee geschossen. Wichmann trug seinen Monatsverdienst für November in der Tasche, was Halle, der die Verhältnisse von Wichmann genau kannte, wohl wußte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch hier vielleicht ein Raubmord geplant war. Da Halle stets einen Revolver bei sich trug, gewinnt die Meinung, daß er auch mit den übrigen Schießereien in Verbindung steht, an Bedeutung, besonders, da er Weg und Steg in Tweelbäke genau kennt, und so in der Dunkelheit leicht entwischen konnte. Die ursprüngliche Vermutung , daß der Schuß auf den Barkemeyer das Werk eines Wilddiebes ist, ist unter diesen Umständen vorläufig aufgegeben worden. Die Verdachtsmomente gegen Halle haben sich so verdichtet, daß seine Täterschaft sehr wahrscheinlich ist. Den Verdacht gegen den verhafteten Arbeiter Koch hat man fallen lassen. Da er aber dringend verdächtig ist, das Sittlichkeitsverbrechen in Sandersfeld begangen zu haben, bleibt er in Haft.
Unsere Gendarmerie hat also Anscheinend zwei besonders gute Fänge gemacht. Daß es so rasch geschah , trägt ungemein zur Beruhigung der Bevölkerung bei und ist ein gutes Zeichen für die Tüchtigkeit der Hüter der öffentlichen Ordnung.
Ein früherer Kamerad von Halle vom Dragoner-Regiment machte einem unserer Vertreter nachfolgende Angaben: Halle ist von kleiner Statur, dabei körperlich aber sehr gewandt und intelligent. Er war ein tüchtiger Soldat und wurde rasch befördert. Bei seinen Kameraden war er allerdings nur wenig beliebt, weil er ein etwas hinterlistiges, verschlossenes Wesen zeigte, so daß man ihm nicht recht traute. Sobald er zum überzähligen Unteroffizier befördert wurde und so mehr Urlaub erhielt, begann er nachts umherzustreichen. Niemand wußte, wo er sich dann eigentlich aufhielt, bis seine Raddiebstähle ans Licht kamen. Zugleich wurde er auch als Täter der in seiner Korporalschast vorgekommenen Diebstähle entlarvt. Seine ganze Unteroffizier-Herrlichkeit dauerte so nur kurze Zeit . Allgemein bedauert wird das Schicksal des Sergeanten, der von Halle wegen Benutzung seines Rades angezeigt und kriegsgerichtlich wegen Diebstahls verurteilt wurde. Später wurde dann ermittelt, daß Halle das Rad selbst gestohlen haste. Hier zeigte sich so recht die ganze Verworfenheit dieses Menschen.
Ein Geständnis hat Halle noch nicht abgelegt; immerhin wirkt die Wucht der Verdachtsmomente anscheinend doch auf ihn ein, so daß nicht ausgeschlossen ist, daß er sich
zu einem Geständnis bequemt.
Aeußerst niedergeschlagen sind naturgemäß die Angehörigen Halles, sowie seine Braut, mit der er sich demnächst verheiraten wollte. Letztere kann aber eigentlich von Glück sagen, daß die Straftaten jetzt ans Licht kommen; denn es wäre für sie doch ein großes Unglück gewesen, an diesen Menschen ihr lebelang gekettet zu sein.
28. Juni 1913 - "Zeitung für Stadt und Land"
Der Überkall bei Tweelbäke.
Oldenburg , 28. Juni.
Vor dem Schwurgericht stand gestern der Rottenarbeiter Halle, der am 28 . Dezember d. Js . beim Hemmelsbäker Fuhrenkamp auf den Techniker Barkemeyer schoß, so daß dieser wochenlang in größter Lebensgefahr schwebte. Das Gericht setzt sich zusammen ans Landgerichtsdirektor Bothe, Gerichtsassessor Flor und Assessor Mehrens. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Klusmann; die Verteidigung ruhte in den Händen von Rechtsanwalt Möbring; Gerichtsschreiber war Referendar Both. Es waren 14 Zeugen und 5 Sachverständige geladen.
Die Anklage lautete auf
Mordversuch.
Der Angeklagte, Rottenarbeiter Johann Halle, ist am 27. Juni 1888 zu Tweelbäke geboren, wurde also gerade an dem Tage, an dem gegen ihn wegen Mordversuchs verhandelt wurde, fünfundzwanzig Jahre alt. Er hat zunächst einige Stellen als Knecht gehabt und ist dann beim Dragoner-Regiment eingetreten, wo er es bis zum Unteroffizier brachte. Er ließ sich als solcher aber verschiedene Diebstähle zu schulden kommen, so daß er zu 7 Monaten Gefängnis, Degradation und Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes verurteilt wurde. Nach der Entlassung vom Militär trat er bei der Eisenbahn als Rottenarbeiter ein; auch in dieser Stellung setzte er seine Diebereien fort; aus einem Packwagen stahl er Butter, für 150 M Fleischwaren usw. Dafür erhielt er vor einiger Zeit 8 Monate Gefängnis. Zuletzt wohnte er in der Mühlenstraße. Dort stahl er seinem Logiskollegen 16 M. Von einer Anzeige sollte aber abgesehen werden, wenn Halle den Betrag bis zum 31. Dezember d. Js. zurückbezahlte. Am 28. Dezember geschah dann der Ueberfall, und wie bekannt ist, nahm man in der Bevölkerung damals allgemein an, Halle habe die Absicht gehabt, auf der Chaussee jemand zu erschießen und zu berauben . Darauf ist die Anklage auch aufgebaut. Der Techniker Barkemeyer, der in Oldenburg beschäftigt war, wollte wie an jedem Sonnabend auch am 28. Dezember seine in Kimmen wohnenden Eltern besuchen. Auf der Tweelbäker Chaussee beim 8,8 Kilometerstein sah er einen Mann im Gebüsch stehen; im nächsten Augenblick wurde ein Schuß auf ihn abgegeben, so daß er vom Rade stürzte. Er raffte sich auf und kam nach einigem Hin und Her zu dem an der Chaussee wohnenden Landmann Claußen. Verschiedene Umstände lenkten den Verdacht der Täterschaft auf den Eisenbahnarbeiter Halle, der dann in Haft genommen wurde.
Bei seiner Vernehmung gestern morgen vor dem Schwurgericht antwortete er auf die Frage des Vorsitzenden, ob er sich schuldig bekenne, mit einem entschiedenen „Nein". Auf die weitere Frage gab er Wohl zu dort gewesen zu sein, doch will er die Absicht gehabt haben, Hasen zu schießen. Es war um die Zeit Vollmond, doch war der Himmel bedeckt. Als Halle in einem Graben auf den Knien liegend auf Wild gewartet habe, sei plötzlich ein Geräusch an sein Ohr gedrungen . Er habe sich umgedreht und geschossen, ohne genau gesehen zu haben, was dort war. Er habe dann einen Laut gehört, und bald darauf habe er auch gesehen, daß sich dort ein Mensch aufhielt. Daß jemand vom Rade gestiegen oder gefallen sei, habe er nicht gesehen. Nach einiger Zeit will Halle dann nach Hanse gegangen und dort um 11 Uhr eingetroffen sein. — Auf Befragen des Vorsitzenden gab der Angeklagte genau den Platz an, wo er sich im Gebüsch aufgehalten habe. Man machte ihn darauf aufmerksam, daß vieles davon abhinge. Landgerichtsdirektor Bothe teilte dann weiter mit, daß ursprünglich gegen Halle Anklage wegen schwerer Körperverletzung erhoben und die Angelegenheit deshalb an das Landgericht gelangt sei. Dieses habe aber nicht geglaubt, daß die Angelegenheit damit erschöpft sei. Daraufhin sei Anklage wegen Mordversuchs erhoben worden, und somit habe sich das Schwurgericht damit zu befassen.
Zunächst wurden einige Zeugen dernommen, deren Aussagen dazu dienen sollten, ein
Bild von dem Charakter des Angeklagten
zu gewinnen. Im allgemeinen wurde Halle als sehr schlechter Charakter geschildert. Ein Gendarm hat die Aufgabe gehabt, die Verwandten des Halle bald nach der Tat zu vernehmen. Sie haben aber sämtlich die Aussage verweigert, und zwar deshalb, weil man Angst vor ihm hatte. Er war in der ganzen Gegend ein gefürchteter Mensch, und dabei ist er nur ein kleiner Kerl, der kaum über viel Körperkräfte verfügen dürfte. Er hat wenig Sympathisches an sich. Seine Aussagen lassen darauf schließen, daß man es mit einem schlauen, verschlagenen Menschen zu tun hat, der rücksichtslos bis zum äußersten sein kann.
In striktem Gegensätze zu seiner Aussage stand diejenige des Technikers Barkemeyer, der als Zeuge vernommen wurde. Er sagte aus, sein Rad sei damals
schadhaft gewesen und habe geklappert, so daß man das Kommen eines Radfahrers hören mußte. Etwa eineinhalb Meter vom Wege habe in den Tannen ein Mann gestanden, er habe sich noch nach ihm umgesehen, und plötzlich habe ein Schuß geknallt, der ihm in den Kopf gegangen fei. Kurze Zeit darauf sah er auf der Straße ein Licht, als ob jemand mit einer elektrischen Taschenlampe etwas suchte.
Dr. Wintermann, der den Zeugen behandelt hat, sagte über die Art der Verletzung aus; hervorzuheben ist daraus, daß sich jetzt noch etwa 30 Schrotkörner
in Barkemeyers Kops befinden. —
Nach Vernehmung einiger anderer Zeugen wurde die Verhandlung abgebrochen, und der Gerichtshof, die Geschworenen, einige Zeugen und der Angeklagte, unter scharfer Bewachung und an einen Gefangenwärter angeschlossen, fuhren in mehreren bereitstehenden Automobilen
zum Tatorte,
damit man ein klares Bild davon gewinne, ob es möglich sei, daß Halle von der Stelle, wo er sich in der fraglichen Nacht aufgehalten haben will, auf Barkemeyer geschossen hat. Der Eindruck war allgemein der, daß die Aussage Barkemeyers stimmte und die Behauptung Halles falsch war. Barkemeyer mußte sich aufs Rad setzen und genau wie damals die Strecke absahren, während einige Geschworene sich an beiden in Frage kommenden Punkten aufstellten, das Gewehr anlegten usw. Der Punkt, wo Barkemeyer geschossen worden ist, läßt sich deshalb noch genau feststellen, weil man den an der Stelle stehenden Baum, von dem einige Blätter abgeschossen waren, gezeichnet hat. Hätte Halle sich wirklich dort aufgehalten, wie er behauptet, dann hätte Barkemeyer ihn auch unmöglich sehen können.
Um 12 1/2 Uhr war der Lokaltermin beendet. Eine neue Sitzung im Gerichtssaale wurde auf 4 1/2 Uhr anberaumt.
Nachmittagssitzung.
Zunächst wurden einige Herren als Sachverständige vernommen, nämlich der dort tätige Holzwärter, der Jagdpächter und Oberförster Brauer. Sie wurden darüber befragt, ob es vernünftig sei, an der Stelle Hasen oder Rehe zu schießen, an der sich der Angeklagte aufgehalten haben will. Von allen drei Sachverständigen wurde die Frage verneint. Als Grund wurde einmal angegeben, daß sich dort fast gar kein Wild aufhalte und andererseits dort gar kein Schußziel vorhanden sei.
Wichtig war das Gutachten des Sachverständigen Major Deinert aus Berlin, des Direktors der Versuchsanstalt für Schußwaffen. Man hat in der Anstalt 56 Schuß mit demselben Gewehr und demselben Geschoß abgegeben, und diese Versuche haben ergeben, daß der Schuß unmöglich von der Stelle aus abgegeben sein kann, die von dem Angeklagten
angegeben wird; vielmehr sprächen die Angaben sehr bestimmt dafür , daß der Zeuge Barkemeyer recht habe — Oberförster Brauer schloß sich dem Gutachten an.
Der Vorsitzende machte den Angeklagten eindringlich darauf aufmerksam, daß das Gutachten der Sachverständigen dahin gehe, daß seine Aussage unmöglich richtig sein könne, und fragte ihn weiter, weshalb er die Unwahrheit sage und welchen Gmnd er dafür habe, weshalb er denn hartnäckig leugne und einen unrichtigen Platz angebe. Man müsse doch auf den Gedanken kommen, daß er an der Stelle, an der er wirklich gestanden habe, schlechte Absichten gehabt habe, und er gäbe nur deshalb einen falschen Platz an, um seine schlechten Absichten zu verbergen. — Angeklagter: Nein, das Hab ich nicht!
Hierauf wurde die Frau bei der er wohnte, und sein Logiskollege vernommen; dem letzteren hat er bekanntlich 16 Mk gestohlen. Zeuge sollte u. a. auch darüber aussagen, wie das Verhalten des Angeklagten beim Nachhausekommen gewesen sei. Er sagte aus, Halle sei zwischen 11:30 und 12 Uhr nach Hause gekommen, habe das Licht angezündet, aber sofort wieder gelöscht, dann habe er sich am Ofen zu schaffen gemacht, sei eine halbe Stunde aufgeregt auf und abgegangen und habe sich dann zu Bett gelegt. Zeuge habe die ganze Nacht nicht schlafen können, da der Angeklagte unruhig schlief, stöhnte und sich, auf dem Lager hin und her wälzte. — Angeklagter erwiderte: Nein, das ist nicht wahr! — Zeuge, ist das wahr? — Ja! — Angeklagter, Sie hören doch, was der Zeuge sagt. — Das ist nicht wahr!
Hierauf wurden die Schuldfragen verlesen.
Staatsanwalt Dr . Klusmann
führte aus, es habe seinerzeit, als der Überfall bekannt geworden sei, eine große Aufregung in der Bürgerschaft Platz gegriffen, und diese Aufregung sei auch in die Zeitung übergegangen. Täglich seien Artikel erschienen, und in einem derselben, wenn seine Erinnerung richtig sei, unter Stimmen aus dem Publikum, sei der Gedanke ausgesproochew
worden, es handle sich um den Fehlschuß eines Wildschützen. Der Angeklagte, der sich damals sehr für die Zeitung interessierte, habe den Gedanken aufgegriffen und benutze ihn
jetzt zu seiner Verteidigung. Diese Behauptung habe man aber mit der allergrößten Vorsicht aufzunehmen. Redner ging eingehend auf den Fall ein, verwies auf die bestimmten Bekundungen des Zeugen Barkemeyer und auf alle die übrigen Momente, die diese Aussage bekräftigen. Aus der Beweisaufnahme habe sich ergeben, daß der Angeklagte in den wichtigsten Punkten die Unwahrheit sagt. Er tue das, um glauben zu machen, er habe es auf Wilddieberei abgesehen gehabt. In Wirklichkeit habe er es auf die Börse des Zeugen abgesehen gehabt. Dafür spreche einmal die Tatsache, daß er die Landstraße, wie mehrere Zeugen bekunden, nach dem Schuß abgesucht habe, und zwar deshalb, weil er annahm, der angeschossene Barkemeyer würde irgendwo liegen, und er könne ihn so leicht berauben. Er brauchte Geld, da er seinem Logiskollegen 16 Mk gestohlen hatte, die er am 1. Januar zurückbezahlen sollte. Man habe von dem Charakter des Angeklagten ein schlechtes Bild, vor allem sei er ein hinterlistiger Mensch. So habe er beim Militär einmal einen Diebstahl verübt und einen anderen der Tat bezichtigt. Redner bat schließlich um Beantwortung der von ihm gestellten Schukdfragen.
Rechtsanwalt Möhring
bat die Geschworenen, all die Eindrücke, die sie aus der Erregung zur Zeit der Tat empfangen hätten, beiseite zu setzen und lediglich nach dem Ergebnisse der heutigen Verhandlung zu urteilen. Er setzt auseinander, daß man lediglich auf Kombinationen angewiesen sei, und daraufhin könne sich ein vorsichtiger Mann schwerlich ein Urteil bilden und über das Schicksal eines Menschen entscheiden. Jeder Beweis fehle dafür, was der Angeklagte in dem Fuhrenkamp gewollt habe. Es fehle au jeglichen objektiven Anhaltspunkten dafür, daß er einen Mord beabsichtigt habe. Die Tatsache, daß er kein Geld gehabt habe, sei doch kein Beweis dafür, daß er bereit gewesen sei, das schwerste Verbrechen aus sich zu laden. Man sei lediglich aus Vermutungen angewiesen. Eine solche Absicht müsse doch objektiv bewiesen werben. Redner bat, die Fragen nach vorsätzlichem Mord- oder Totschlagsversuchs zu verneinen, man möge höchstens die Frage nach vorsätzlicher oder sogar fahrlässiger Körperverletzung bejahen.
Der Staatsanwalt erwiderte kurz, ebenso der Verteidiger.
Der Angeklagte führte aus, wenn es ihm wirklich um Geld zu tun gewesen wäre, hätte er sich etwas von der Bahn auszahlen lassen können.
Der Vorsitzende erteilte den Geschworenen hieraus die Rechtsbelehrung, worauf sich diese zur Beratung zurückzogen.
Die Frage nach versuchten Mordes wurde verneint, diejenige nach versuchten schweren Straßenraubes bejaht.
Der Staatsanwalt beantragte eine Zuchthausstrafe von 10 Jahren.
Der Verteidiger bat, auf eine niedrigere Strafe zu erkennen.
Der Angeklagte bat ebenfalls um eine leichte Strafe.
Das Gericht schloß sich dem Anträge des Staatsanwalts an und verurteilte den Angeklagten zu 10 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust.
Die noch von ihm zu verbüßende Gefängnisstrafe wurde zu 3 Monaten Zuchthaus zusammengezogen, so daß die Gesamtstrafe 10 Jahre zwei Monate Zuchthaus beträgt.
Schluß der Verhandlung um 7 3/4 Uhr. (1485)
Baedecker's Nordwestdeutschland - 1902
13. Von Bremen über Oldenburg und Leer nach Norden.
157km. Schnellzug (nur Juli-Sept.) in 4 1/4 St. für M 12,70, 9.50, 6, 40 Personenzug in 5 1/4 St.
Bremen s. S. 55. — Der Zug überschreitet die Weser (l. Blick auf die Altstadt) und hält in (2,4 km) Bremen-Neustadt. — 14km Delmenhorst (Bahnhofshotel), oldenburg. Stadt von 16600 Einw. an der Delme, 1247, nach dem Kreuzzuge gegen die Stedingcr, gegründet, mit alter Burg. Nebenbahn über (48km) Vechta (S. 69) nach (92.km) Bramsche (S. 69). 22 km Grüppenbühren; unweit der Wald von Hasbruch, mit uralten Eichen. —28 km Hude. 40 Min. vom Bahnhof die großartige Kirchenruine eines 1536 zerstörten Cistercienserklosters (frühgotigcher Ziegelbau, 1296 begonnen).
Von Hudede nach Nordenham, Eisenbahn in ca. 1 1/2 St. durch ehemals friesisches Marschland an Ostseite des Jadebusens. -26km Brake, mit 4700 Einw. Nebenbahn nach (32km) Oldenbnrg. Nordenham: (Gasth. Hot. zur Börse; Dampflähre in 3/4 St. nach Geestemünde, S. 64), mit Hochsee-Fischereihatfen.
44km Oldenburg.
Oldenburg.
Hotels
Restaurants u.a.
Oldenburg, an der Hunte, als „Oldenburg" zuerst erwähnt, 1345 mit dem Stadtrecht beschenkt, bis 1667 Sitz der Grafen von Oldenburg, dann bis 1773 dänisch. seit 1777 Residenz der Herzöge (seit 1815 Großherzöge) von Oldenburg (Holstein-Gottorp), ist eine Stadt von 36 000 Einw. (mit den Vororten). Die Altstadt ist von schönen Villenstraßen umgeben.
Vom Bahnhof (Pl. D2) führt die Kaiserstraße südl. zum Stau (Pl. C D 3), an der Hunte, wo Ecke der Gottorpstraße das Landes-Kunstgewerbemuseum (Pl. 3a: C 3; Eintritt tägl. '10-1 Uhr, sonst durch den Hauswart; Direktor: G. H. Nurten).
Das Museum enthält u. a. Eisenarbeiten, Selmitzereien, Gewebe, größere kirchliche Holzskulpturen, Schiffsmoaelle, bäuerliches Hausgerät, Kopie des sog. Oldenburger Wunderhorns (xv. Jahrh. ; Original in Kopenhagen), Abguß der Renaissancedecke im Schloß zu Jever, Bauernstube aus dem Ammerlande. Im Vorhof eine Halle mit Steinskupturen, Wappen und Taufsteinen.
Welter durch die Ritterstraße, mit (l.) der 1894 erbauten Landesbank, zum Markt.
Am Markt, mit Monumentalbrunnen, das Rathaus (Pl. 1 : B 4) 1885-87 nach Plänen von v. Holst und Zaar erbaut, und die Lambertikirche (Pl. 5 : B 4), ein gotischer Backsteinbau aus dem XIII. Jahrh., im xvlll. Jahrh. umgebaut, 1874-86 fünftürmig neu hergestellt.
Das großherzogl. Schloß (Pl. C 4), ein an Stelle der alten Burg des XII. Jahrhunderts 1607-20 von J. Reinhard und dem Italiener Andrea Spezea errichteter Renaissancebau, ist im XVIII. und zu Anfang des XIX. Jahrh. wiederholt umgebaut worden; der Westflügel, mit Fresken von A. Fitger (Scenen aus der Oldenburg. Sage und Geschichte), stammt aus den J. 1894-99. Die alten Räume enthalten eine Anzahl neuerer Bilder und einige Skulpturen (Führung durch einen Diener; Trkg. 1-1 1/2 M). — Außerdem sind hier die großherzogt. Bibliothek (auf Anfrage im Kammerherren-Amt zugänglich) eine bedeutende Kupferstichsammlu.ng, Münzsammtung u. a.
Auf dem Schloßplatz, westl. vom Schloß, ein kleines Bronzestandbild des Herzogs Peter Friedrich Ludwig (gest. 1829), von Gundelach (1893). Nördl. dem Schloß gegenüber der Marstall (stets zugänglieh). Südlich der reizende Schloßgarten (Pl. B A 5, 6) , mit einem Weiher und Gewächshäusern; beim Eingang das 1896 erbaute Elisabeth Anna-Palais, Wohnung des Großherzogs.
Jenseit der Hunte liegt am mittleren Damm 1. das Palais (Pl. C 5 Zutritt gestattet), mit vortrefflichen neueren Ölgemälden von K. F. Lessing, Osw. Achenbach, Fr. Preller, H. Makart, A. Böcklin (Villa am Meere), H. Baisch, Salinas u. a.
Unweit südl. vom Palais ist am äußeren Damm Nr. 13 das großherzogl. naturhistorische Museum (Pl. C 5), 1876-79 von Schnitger im Renaissancestil erbaut. Eintritt Mi. So. 3-6 (im Winter 2-4) So. 12-2 Uhr. Kein Katalog. Direktor: Dr. Martin.
Kellergesehoß : friesische Steinsärge. - Treppenhaus und Vorzimmer des Erdgeschoss: ethnographische Sammlung. - Hauptraum des Erdgeschoss: vorgeschichtliche und frühgeschichtliche Alltertümer. - I. Stock: Obst- und Pflanzennachbildungen, Petrefakten, Mineralien, wirbellose Tiere, Fische, Amphibien und Reptilien. - II. Stock: Vögel und Säugetiere.
Die Landesbibliothelc, neben dem Museum, enthält c. 118.000 Bände, darunter wertvolle Handschriften und Wiegendrucke, sowie eine deutsche Bibel von 1541mit Lutherautograph. (Zutritt Wochentags 10-11/2 Uhr; Oberbibliothekar: Dr. Mosen); im Erdgesehoß das großherzogl. Archiv.
An der Elisabethstraße Nr. 1 liegt das Augusteum (Pl. C 5), 1866 von Klingenberg im Spätrennissaneestil erbaut, mit der großherzogl. Gemäldcgaterie älterer Meister. Die Galerie, deren Grundstock die 1804 von Herzog Peter v. Holstein-Oldenburg angekaufte Sammlung des Malers W. Tischbein (86 Gemilde; jetzt 336) bildet, umfaßt neben schönen Oberitalienischen Bildern der Renaissancezeit namentlich zahlreiche vortreffliche Holländer des XVII. Jahrh., darunter eine Landschaft und mehrere Frühwerke von Rembrandt, sowie einige gute vlämische Gemälde (Rubens). Eintritt Wochentags 10-1, Sonn— und Festtags 12-2 Uhr frei•, Katalog 75 Pf.
Am Theaterwall, im SO. der Altstadt, liegen das Gymnasium (Pl. A B 4) und das nach dem Brande von 1891 neu aufgeführte Theater (PI. A 4). Unweit n.w., an der Herbartstraße, ist die
Oberrealschule (Pl. 4 : A 3); davor eine Büste des zu Oldenburg geborenen Philosophen Herbart (1776-1841). — Auf dem Friedensplatz (Pl. A 3) steht als Kriegerdenkmal für 1870/71 die Friedenssäule; an der Westseite die 1893 - von Spieske erbaute Friedenskirche (Pl. 2). — An der Peterstraße ist die kathol. Kirche (Pl. 6: A 3), ein Backsteinbau von Lutz (1873-76).
An das Villenviertel auf den Dobben, s.w. vom Theaterwall, grenzt der hübsche Waldpark des Everstenholzes (PI jenseit A 5).
59km Zwischenahn (Gasth. : Kurhaus, P. 4-6 M; Meyer's Hot. , beide am See), freundlich an einem See, dem Zwischenahner Meer, gelegen, beliebteg Ausflugsziel der Oldenburger; Dampfschiff über den See nach dem Gasth. Dreaergen. — 68km Ocholt. Nebenbahn nach (7km) Westerstede. Die Bahn durchschneidet das große Hochmoor (S. 74); s.w. das Saterland, mit friesisch sprechenden Bewohnern. - Jenseits (77km) Augustfehn, mit großem Eisenwerk, über die preußische Grenze. - 90km Leer. Weiter nach (157km) Norden s. R. 15.
14. Von Bremen nach Wilhelmshaven. Von Sande nach Norden.
Nach Wilhelmshaven, 97km, Schnellzug in c. 2 1/4 St für M 6.00; 4.40; 3.00. Von Bremen bis (44km) Oldenburg s. R.13. Weiterhin meist durch Weideland.
57 km Rastede, einst reiches Benediktinerstift, gegründet 1121, 1500 in ein Lustschloß umgewandelt, mit großem englischem Park; jetzt Sommerresidenz des Großherzogs von Oldenburg.
70km Varel (Gasth.: H. Ebolé, gut; Victoria-H., Z. F. 2 1/4 M), freundliches Städtchen von 5200 Einw., mit Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Beliebte Spaziergänge in der waldreichen Umgebung nach dem (20 Min. w.) Kaffeehaus im Vareler Holz und nach dem (1. St.) Mühlenteich (Rest. ). Von dem eisernen Leuchtturm am (2 1/2km) Hafen (Bäder) guter Blick über den Jadebusen.
Wilhelmshaven, freundliche Stadt von 22600 Einw., Deutschlands befestigter Nordseekriegshafen, Sitz des Kommandos der Marinestation der Nordsee, 1855-69 von Preußen auf einem 1853 von Oldenburg erworbenen Gebiet angelegt, liegt an der Nordwestseite des Jadebusens, eines im XIII. und im XVI. Jahrh. durch Einbruch der Sturmfluten entstandenen 163 qkm großen Wasserbeckens, das durch einen 5km breiten Meeresarm, die eigentliche Jade, mit der Nordsee in Verbindung steht.
Ostl. vom Bahnhof dehnt sich der Friedrich-Wilhelmplatz aus, mit Anlagen und, an der S.-Seite, einem Brcnzestandbild Kaiser Wilhelms 1., von Schuler (1895; Pl. 2). Südl. davon die Elisabethkirche (Pl. 4) und, unweit östl., der Marktplatz, an dessen W.-Seite die Post (Pl. S) und das Rathaus (EI. 9) liegen. Die an der S.-Seite des Rathauses vorbeiführende Roonstraße ist in ihrem westl. Teil die Hauptstraße der Stadt.
An der N.-Seite des Friedrich -Wilhelmplatzes ein Bronzestandbild des Admirals Prinzen Adalbert von Preußen († 1873; Pl. 1), 1882 nach Schuler's Entwarf errichtet, und die Marktstraße, die zum Haupteingang der
KAISERL. WERFT führt. Das die Häfen, die Docks und Hellinge umgebende Terrain mit sämtlichen Werkstätten und Lagerhäusern der Werft ist von einer Mauer rings umschlossen; zur Besichtigung (Wochentags 8-11 1/2 U. Vm., 1 1/2-5 U. Nm.; Sonnt. wird nicht gearbeitet) bedarf man einer Erlaubniskarte, die man in der Polizeiwache der Oberwerftdirektion (PI.14 beim Haupteingang erhält (50 Pf. für 1-3 Pers., nur für deutsche Reichsangehörige). Eine flüchtige Besichtigung der Werft (dem begleitenden Feuerwehrmann ein Trkg.) und eines Kriegsschiffes dauert c. 2 St. Östl. vom Eingang liegt der Bauhafen (377m lang, 226m breit), mit drei Trockendocks, von denen zwei 138m lang, 26m breit, über 9m tief sind, das dritte 120m lang ist, und Hellingen zum Bau von Schiffen jeder Art. — Ostl. steht der Bauhafen mit dem Ausrüstungshafen (1168m lang, 136m breit) in Verbindung, dessen Ostende sich mit 48m langen Schleusen zunächst in den Vorhafen (188m lang, 125m breit), dann in die „Alte Einfahrt" öffnet. — Der Neue Hafen (70 000qm groß, 8m tief) ist für die in Dienst gestellten Kriegsschiffe, für Handelsfahrzeuge und, auf der SO.-Seite in einer besonderen Abteilung, für Torpedoboote bestimmt. Mit der 1886 eröffneten „neuen Einfahrt" ist er durch eine 174m lange Schleuse verbunden ; westl. schließt der Ems-Jadekanal an, ebenfalls mit einer Schleuse.
Nördl. vom Friedrich-Wilhelmplatz der Park, mit einer Wirtschaft (Pl. 7) und dem Wasserturm (Pl. 13; Aussicht; Eintr. 25 Pf ) - 1/4 St n.ö. von der kath. Garnisor4irche das Observatorium, mit Zeitball.
Ein kleiner Dampfer fährt 5-6 mal tägl. in 20 Min. (80 Pf.) nach Eckernförde (Kurhaus 12 Z, zu 1-1 1/2, P. 3 1/2 M) an der NO.-Seite des Jadebusens; Seebad 40 Pf. 1 St. nördl. von hier liegt Togens (Gasth. Strandhotel, 12 Z. zu 1 1/4, P. 4 M), Beide Orte hallen guten Sandstrand.
Von Sande nach Norden.
62km. in c. 3 St.
Sunde s. S. '70. Dic Bahn führt bis Norden durch Weide- und Ackerland.
13km Jever (Bahnrest. ; Gasth. : Hof von Oldenburg, am Markt, Z. 2-3, F. 1, M. 2 M gut /, Erbgroßherzog, Z. F. 2 1/2, M. Schwarzer Adler), Stadt von 5500 Einwohnern, Hauptort des ehemals friesischen Jeverlandes, das bis 1575 eine selbständige Herrschaft bildete (seit 1818 oldenburgisch). — Die Bahnhofstraße führt in 5 Min. zur Stadt. In den Anlagen l. ein 1896 errichtetes Standbild des Chemikers Eilh. Mitscherlich (1794-1863); r. ein Denkmal des ebenfalls aus Jever stammenden Historikers Fr. Chr. Schlosser und ein Bronzestandbild des Fräulein Maria von Jerer (s. unten), von H. Magnussen (1900). Weiter durch die Prinzenallee zum Schloss, einem 1834-40 durch „Restauration" sehr entstellten Bau des xv. -xvi. Jahrhunderts; im Audienzsaal eine in Eichenholz geschnitzte *Renaissance-Decke (1566), angeblich nach dem Entwurfe des Antwerpeners Cornelis Floris. Die Stadtkirche enthält das Marmorgrabmal Edo Wiemkens d. J. (+ 1511), von seiner Tochter Maria, der letzten friesischen Herrscherin, 1561-64 durch C. Floris errichtet. Rathaus von 1609, die Täfelung der Ratsstube aus den J. 1614-16. In der Neustraße das Restaurant von Horch, der Versammlungsort der „Getreuen": interessantes Gedenkbuch; silberner Pokal in Form eines Kibitzeies, Geschenk des Fürsten Bismarck.
Nebenbahn nach (ß km) Carolinensiel-Harle (S. 75; gutes Restaur., auch Z.).
Diesseits (20km) Wittmund (Bahnhofshotel) über die preußische Greuze. Kleinbahn nach Leer (S. 74).
33km Esens (Gasth.: Wessel, Z. 2, F. 3/4, M. 2 W, gelobt; Deutsches Haus; Bahnhofshot.), Stadt mit 2100 Einw., Hauptort des Harlingerlandes, einer 400qkm großen fruchtbaren Marschlandschaft, die lange ein Lehen des Herzogtums Geldern war und erst 1743 durch Preußen mit Ostfriesland vereinigt wurde. In der Stadtkirche bemerkenswert der Taufstein (1474) und die Grabdenkmäler friesischer Häuptlinge.
Von Esens nach Spiekeroog s. S. 75.
46km Dornum (Gasth.: Hof von Ostfriesland). Nach Baltrum s. s. 75. — 148km Hage; nahebei das moderne Schloß Nordeck. 5 Min. w. vor dem Ort liegt Lützburg, schönes, 1895 neu erbautes Schloß des Fürsten Knyphausen, mit Park.
62km Norden (Gasth.: Schmidl's Hot. zum Weinhaus, Z. '2-3, F. 3/4, M. 2-3 M; Deutsches Haus, Z. 2, F. 3/4, M. 2 M; Centralhotel), gewerbthätiges Städtchen von 7000 Einwohnern. Am Markt (vom Bahnhof durch die Bahnhofstraße und den Neuen Weg, dann l. durch die Oststraße) die luth. St. Ludgerikirche, 1445 im gotischen Stil erneut; davor ein Bronzestandbild des Fürsten Bismarck, von Künne (1901). Unweit s. w. das Alte Rathaus aus dem Anfang des XVI. Jahrh. — Wagen nach Liitzburg (s. oben) 3M; Fußgänger gebrauchen 3/4 St.
Von Norden und s. S. 75; — nach Emden s. s. 75.
15. Von Hamm über Rheine nach Emden.
21AkLu. Schnellzug in St.. Personenzug in 5 St. für f 7.20, 12,90, 8.11).
Hamm s. S. 103.
— Jenseit (22km) Rinkerode über den Dort-
mund-Ems-Kanal.
35km Münster, s. S. Sä.
Weiterhin durch einförmige Gegend viel Heideland
. — 51 km
Greee an der Ems, in die hier die Aa mündet. — 74km Rheine,
82 km Salzberyen (S. 85).
— 91 km Leschede. Die Bahn über-
schreitet die Ems.
— 10ökm Lingen (Gasth.: Heeger), Kreisstadt
mit 7000 Einw., 1685-1809 Sitz einer Universität
. — 125km
Meppen (Gasth.: Kerckhoff, vorm. Brüggemann, Z. 21/2-3, F. 3/4,
Oldenburger Spaziergänge und Ausflüge - 1912 - Erstellung -
Aus der Vorrede zur 2. Auflage
"Für Leckermäuler wird hier nicht gekocht!" pflegte vor Jahren der Präsident unseres Mittagstisches zu sagen, wenn einer der Gäste Auswahl oder Beschaffenheit der Speisen bemängelte: "Für Leckermäuler wird hier nicht gekocht." Die Gäste lernten - und einige hatten es in der Tat nötig - sich zu bescheiden und ihre Ansprüche der Gelegenheit anzubequemen.
Man könnte das Sprüchlein auch denen zurufen, welche die Naturschönheiten unseres Ländchens aufsuchen und sich in ihren Erwartungen getäuscht finden. Es ist nun einmal nicht anders. Die Genüsse, welche unsere Heimat dem Naturfreunde bietet, sind weder großartig noch Reich an Abwechselung. Alte strohgedeckte Bauernhäuser mit Eichenhöfen und prunklosen, wenn auch nicht ganz schmucklosen Gärten, breite Esche mit wallenden Roggenfeldern, eingefasst von Dörfern und Einzelgehöften, von Hecken und Holzungen, endlich die Wälder selbst, die in buntem Gemisch von Eichen-, Buchen- und Nadelholzbeständen und oftmals von Wiesen unterbrochen über die Geest zerstreut liegen - das sind die bescheidenen Schönheiten, die der Wanderer wieder und wieder erblickt, und in denen er den Lohn seiner Mühen finden muss. Selten ist es, daß eine besondere Würze diese Altagskost reizender macht. Zwischenahn mit seinem auf der Fläche von Seglern und Dampfschiffen, an den Ufern durch Wälder und schwimmende Häuser belebten See, der Hasbruch und der Bokhorner Urwald mit ihren Rieseneichen, Hude, mit seinen Klosteruinen und seinem Park sind solche Festgerichte, die eben dieser besonderen Würze wegen den meisten Zuspruch finden.
Und lägen noch Dorf und Esch und Wald und Wiese in stetem ununterbrochenen Nebeneinander! Aber in Wirklichkeit sind die anmutigeren Punkte Oasen in einer Wüste von Heide, Moor und Sand, und stundenlang muss oftmals der Wanderer im Schweiße seines Angesichts auf schlechten Wegen durch Öden und Umland pilgern, ehe er ein freundlcihes Dörfchen oder einen schattigen Wald erreicht.
Trotzdem hat unsere Landschaft treue Freunde und erwirbt sich deren von Jahr zu Jahr mehr. Vielleicht werden diese es nicht ungern sehen, wenn wir ihnen das trockene Wegeverzeichnis, das wir vor drei Jahren erscheinen ließen, nunmehr um einige Touren vermehrt und zugleich in etwas weniger mageren Form darbieten. Der eigentlichen Schilderung enthalten wir uns auch diesmal, aber wir deuten doch an, was man auf diesenm oder jenem Ausflug zu erwarten hat. Vereinzelte historische Notizen und hier und da eine Sage werden, wie wir hoffen, nicht unwillkommen sein.
Die Marsch ist wenig berücksichtigt. Ungeachtet oder wegen ihrer Fruchtbarkeit - Wir lassen die Wahl - ist die Landschaft zu einförmig, um den bloßen Lustwandler zu häufigem Besuch einzuladen.
Das Ammerland und die friesische Wede sind mehr zu empfehlen. Wir haben dort alle einzelnen Schönheitselemente unserer Gegend, und meist ziemlich nahe bei einander, also im häufigem Wechsel. An Höhenunterschieden fehlt es fast ganz, aber dafür ist die Wiese hier häufiger als in den übrigen Geestbezirken, und neben den Staatsforsten finden sich auch Bauernholzungen, die vor ersteren Vorzüge haben. Die Staatsforsten sind mit Ausnahme geringer Flächen forstmäßig bewirtschaftet und zeigen daher meist fest begrenzte Schläge bestimmter ungemischter Baumarten, wärend in den Holzungen der Bauern, je nach der Einsicht der Besitzer zwar für Durchforstung, Abwässerung u. dgl. mehr oder weniger gut gesort, aber im übrigen die freiwillig entstandene Mischung der Bestände beibehalten und auch dem Unterholz Raum und Leben gegönnt ist. Im allgemeinen sind daher die Bauernholzungen die hübscheren. Doch ist es mit den Wegen in denselben manchmal schlecht bestellt.
Die Delmenhorster Geest ist höher als die ammersche und hat durch die umschließenden Flüsse und mehrere auf ihr entspringenden Flüsse und Bäche Gelegenheit, diese höhere Lage dem Auge sichtbar zu machen. Namentlich an der oberen Hunte von Wildeshausen bis Sandhatten und an der Weserniederung von Bremen abwärts fällt die Geest ziemlich steil ab, indessen haben auch jede kleineren Gewässer, zum Beispiel die Delme. die, Welse, der Vielsteder Bach und der Rittrumer Bach sich Thäler ausgearbeitet, welche dem Boden eine wechselnde Höhenlage verleihen. Es gibt große und sehenswerte Staatsforsten. So z.B. den Hasbruch, das Stenumer Holz., den Stühe, aber wenig Privatholzungen, wenn auch den Bauernhäusern der Schmuck wohlbesetzter Eichenhöfe keineswegs fehlt. Wiesen sind weniger vorhanden, aber auch weniger Moore. Während im Ammerlande erattische Blöcke kaum vorkommen, hat die alte Grafschaft Delmenhorst deren als auch auch kleinerer Steine ziemlich viel. Es ist mit dem Vorrat durch Chaussee und andere Bauten stark aufgeräumt, doch blieb noch genug übrig um dem Wanderer aufzufallen. Abgesehen von den Steinen, die auf der Heide zerstreut liegen. erkennen wir den Steinreichtum an vielen Hofeinfriedungen, deren Hauptbestandteil Granitblöcke bilden. an den auf Granitblöcken errichteten Schafkofen und nicht am wenigsten an den Steindenkmälern, deren sich noch manche, wngleich im beschädigten Zustande erhalten haben.